Wenn man eine Weile im Ausland lebt und immer tiefer in eine fremde Sprache eintaucht, kann es passieren, das man eine tiefere Beziehung zu bestimmten Ausdrücken oder Worten entwickelt. Ein neuer Bericht von Gunnar Henrich.
Ein Student der Islamwissenschaften erzählte mir mal ungläubig und nahezu begeistert (die Begeisterung nahm täglich zu), wie viele verschiedene Schimpfworte im Arabischen existieren. Im Chinesischen entwickelte ein mit mir befreundeter Wirtschaftstudent eine enge Beziehung zu dem Begriff „mei you“ 没有, sinngemäß „habe ich nicht“ oder „gibt es nicht“ . Bevorzugt bei aufdringlichen chinesischen Straßenhändlern, die alles nur Denkbare und Unmögliche verkaufen wollten und dazu eine fast intime Körpernähe suchten, verwendete besagter Student den Begriff „mei you“. Irgendwann wies ich ihn vorsichtig darauf hin, dass es bei aufdringlichen Verkäufern doch möglicherweise sinnvoller wäre, mit „Bu yao“ 不要, „will ich nicht“, zu antworten. Zumal „Mei you“ die Straßenhändler sogar noch anspornte, die Waren viel intensiver anzupreisen: Immerhin sagte de Ausländer ja eben, er habe die konkret angebotene Ware noch nicht – mei you. Mein Kollege meinte dazu nur, „mei you“ würde einfach schön klingen und er wolle es weiter verwenden. Nun ja.
Dongxi und die Suche nach dem weißen Dingsbumms
Ich hatte dann auch irgendwann mein Lieblingswort entdeckt: „dongxi“ 东西. Sinngemäß das Dings, Dingsbumms. Oder eleganter: die Sache. Mit diesem Wort kam ich in die erstaunlichsten Situationen, wobei „dongxi“ einen gewissen Verführungscharakter für mich besaß: „dongxi“ konnte alles und jeder sein und mir das Suchen nach umständlichen Fachbegriffen ersparen. Natürlich trat dann gelegentlich der Kollateralschaden ein, das mein Gegenüber nicht genau wusste, was ich eigentlich wollte. Harmlos war noch mein erstes Erlebnis im Auchan. Wenn man im Auchan einkauft, hat man das Gefühl, in einem überdimensionierten Kaufland oder Metromarkt zu sein. Hier ist alles groß, zu groß. Und es gibt offenbar von allem zu viel. Was es natürlich nicht gab, jedenfalls nicht für mich, war Kondensmilch für Kaffee. Darauf konnte und wollte ich (und kann es auch heute nicht) in China nicht verzichten. Ärgerlicherweise kannte ich in dem Moment nur den Ausrdruck für weiß: bai 白. Und „dongxi“. So begann meine gefühlt dreistündige Suche mit sehr netten und hilfreichen Verkäuferinnen, um das „weiße Dingsbums“ zu finden. Was haben sie mir nicht alles angeboten: weiße T-Shirts, weiße Boxershorts, alle möglichen Zuckersorten, Reisschnaps und ein Bilderbuch mit auszumalenden weißen Flächen. Irgendwann fanden wir es dann: Milch heißt „niunai“ 牛奶, Kondensmilch „dannai“ 淡奶. Obwohl dieser Begriff kein Lieblingswort von mir wurde, werde ich ihn nie wieder vergessen.
Dongxi, der kleine Hund und Salami
Etwas weniger schön, aber wesentlich absurder war mein „dongxi“-Erlebnis in der Mini-Variante des Auchan, einem inhabergeführten „Tante Emma“-Laden für Lebensmittel auf dem Campus. Ich wollte eine Art chinesischer Salami fürs Abendessen kaufen, der Begriff dafür – geschenkt. Ich kannte ja das Wort „dongxi“. Also ging ich in den Laden und da sah ich es – nicht das Dongxi. Aber den Hund. Klein, knuddelig, vermutlich ein Chow-Chow. Ich liebe Hunde. In der Regel beruht das auf Gegenseitigkeit. Hier auch. Ich stürze also auf das Tier zu, das springt an mir hoch, ich knuddel es, alles schon oft erlebt. Bis zur Frage des Verkäufers, was ich denn kaufen wolle. Ich antworte etwa: „Diese Sache zum Essen / chifan de dongxi“ 吃饭的东西. Abgelenkt durch den Hund, der hier im Vordergrund war. Nachfrage der jungen Kollegin des Verkäufers, vielleicht der Tochter: „Shenme dongxi“ 什么东西 – welche Sache?. Der Hund schleckt mich ab, ich bin abgelenkt: sinngemäße Antwort: „Das Dings hier, ich hab Hunger.“ Ich habe den Ausdruck der Gesichter beider Verkäufer nicht mehr in Erinnerung. Vielleicht haben sie nicht viel Erfahrung mit hundeliebenden, 1.90 großen und recht schweren Ausländern. Jedenfalls ergriff die junge Frau in einer erheblichen Hektik den Chow-Chow, sah mich mit fassungslosem Entsetzen an und verschwand in einem Hinterraum. Der Verkäufer sah mich immer noch freundlich an, sagte aber nichts mehr. Ich war so verdattert, das ich das Nächstbeste kaufte, eine Tüte mit Orangen. Keine Salami, kein Chow-Chow. Trotzdem ein Dongxi. Ich habe den Hund niemals wiedergesehen. Jedenfalls sehe ich das westliche Vorurteil widerlegt: In China essen sie keine Hunde.
Dongxi und der Besuch beim Friseur
Der folgenreichste Gebrauch des Wortes „dongxi“ ereignete sich aber in einem hypermordernen spacigen Friseursalon in Suzhou. Die Friseure hatten die wildesten Frisuren, alles sah so nach High Tech und durchgestylt aus. Durch den Sprachunterricht war ich vorbereitet: „Ich will einen neuen Stil, Meister“ – So probte ich die neu gelernten Worte – ich wollte tatsächlich eine neue Frisur. Großartig war hier auch der besondere Service der chinesischen Friseure, der auch in Kai Strittmaters kleiner Gebrauchsanweisung für China vorkommt und den ich hiermit bestätige: Der Friseur verabreichte mir vor dem Schneiden eine Kopf- und Nackenmassage. Das entspannte mich sehr, und auf die unverständliche, aber vermutlich inhaltlich darauf abzielende Frage, was für einen Stil ich wolle, antworte ich in sicherlich absolut falscher Grammatik und Syntax mit eingebauten „dongxi“. Irgendetwas hatten die Friseure aber hier genau verstanden. Um mich herum wurde es plötzlich sehr lebendig, man zwirbelte meine Haare, drehte etwas hinein, behandelte meinen Kopf mit einer Art Gel. Drei Manga-mäßig gestylte „Meister“ standen um mich rum, behandelten mich, plötzlich war mein Kopf in einer Art Trockenhaube. Ich brachte vor lauter Staunen noch nicht mal ein fragendes „dongxi“ hervor, und da alle lächelten, grinste ich auch… und harrte dem, was da entstehen mochte: eine Art hochtoupierte Form von Dauerwellen. Ich hatte niemals Dauerwellen. Geschweige denn Locken. Aber das Strahlen des Friseure werde ich nie vergessen, als ich fertig war. Ich sah selbst aus wie eine Manga-Figur. Drei Tage später war ich immer noch fassungslos. Ich habe danach ausgiebig recherchiert, was Dauerwelle auf Chinesisch heißt. Seltsamerweise entspricht es nicht nur annähernd dem Wort „dongxi“.
Dongxi und der Preis auf Rollen
Im Auchan übrigens erlebte ich noch etwas außergewöhnliches: Die vielen Kassen, die unglaublicherweise alle besetzt sind, steckten jedes einzeln gekaufte Teil in eine einzelne Plastiktüte. Bei einer Ware wußte ich nicht den Preis. Eigentlich erwartet man wie bei uns, dass die Verkäuferin in einer Liste nachsieht und es mit Hand eingibt. Hier nicht. Die Verkäuferin schrie laut, ich wußte nicht, wie mir geschah. Da kommt eine Sekunde später ein strahlender Verkäufer auf Rollerblades angefahren, ergriff die Ware, fuhr von dannen, und war eine Minute später mit dem richtigen Preis wieder da. Diesmal sprach ich auf Deutsch: „Es gibt Sachen, die glaubt mir doch keiner.“ Fragender Blick der fröhlichen Verkäuferin – ich murmel „Dongxi“. Erfreutes Lachen bei ihr. Ich liebte das Auchan.
Über den Autor
Gunnar Henrich ist Politikwissenschaftler mit Chinafokus. Am Center for Global Studies der Universität Bonn promoviert er über Methoden und Ziele chinesischer Afrikapolitik am Beispiel Sambia. Exklusiv für das ICC-Portal veröffentlicht Henrich nun Kapitel aus seinen spannenden Reisetagebüchern aus China (2006-2007).
Weitere Erfahrungsberichte auf dem ICC-Portal:
Kathrin Lemke meint
Liest sich super, sehr amüsant, außerdem informativ. Gern noch mehr!
Kathrin Lemke meint
Sehr amüsant und gleichzeitig informativ! Davon würde ich gern noch mehr lesen!
JA Gruß meint
Fürs nächste Mal…
Dan4 Nai3 , 淡奶 , Kondensmilch
Tang4 Fa3, 烫发, Dauerwelle
Aber dennoch unterhaltsam geschrieben…
Gandalf58 meint
Sehr schön, habe herzhaft gelacht, besonders beim ChowChow. Dongxi geht immer – „gei wo nige dongxi“ und ein kurzer Fingerzeig und schon erklärt einem der Ladenbesitzer, wie das dongxi richtig heisst. Mit ein wenig Glück merkt man sich das, sonst hilft auch beim nächsten Mal wieder „dongxi“
Socialmedia-Blog.Net meint
Sehr nett geschrieben. Ich musste auch selbst schon bei dem ein oder anderen Gericht im Restaurant, dessen Zeichen ich nicht entzwiffern konnte, auf 东西 zurückgreifen 🙂
HS meint
Cooler Artikel! Bitte mehr von G. Henrich!