Von Jendrik Niebuhr
Mitte August findet in Taipeh die Universiade, die Weltsportspiele der Studenten, statt. Die Metropole im Norden Taiwans empfängt vom 19. bis zum 30. August rund 13.000 Teilnehmer aus 150 Nationen, darunter 124 deutsche Athleten. Gelegenheit für ein fragmentarisches Porträt über eine liebenswerte und gemütliche, vielleicht lethargische Großstadt. Ein persönlicher Erfahrungsbericht eines halbjährlichen Auslandsaufenthalts.
Taipeh hat seinen eigenen Rhythmus. Die Mehrzahl der rund 2,6 Millionen Bewohner wird jeden Morgen von einem gut gelaunten, pinballartigen Ring-ding-ding begrüßt. Wer Taipehs gut ausgebautes Metrosystem nutzt und seine Karte über den Sensor zieht, fühlt sich, als hätte er soeben den Hauptgewinn erzielt. Tatsächlich verbringt der typische Taiwanese einen nicht geringzuschätzenden Anteil seiner Freizeit damit, ebenjenem Jackpot hinterherzujagen, indem er reihenweise Wettzettel ausfüllt. Wenn dies nicht gelingt, bleibt noch der Gang zu den unzähligen Spielhöllen der Stadt. Hier widmen sich vor allem Jugendliche mit Hingabe dem Angeln von „Hello Kitty“-Anhängern mithilfe eines elektrischen Greifarms.
Motorisierte haben stets Vorfahrt
Wer nicht in den Genuss des U-Bahn-Systems kommen kann, muss den sprichwörtlichen Kampf auf der Straße aufnehmen. Tag für Tag wird Taipeh von hin- und herwiegenden Wellen überzogen – Mopeds, die sich, bevorzugt im Schwarm, das Recht der Vorfahrt verschaffen. Beizeiten ist es möglich, bis zu vierköpfige Familien zu bestaunen, die in einem Akt alltäglicher Akrobatik auf den Kleinkrafträdern Platz finden. Angesichts von links- und rechts überholenden Mopeds, wird den hiesigen Autofahrern einiges abverlangt. Nicht minder betroffen sind Fußgänger, das schwächste Glied auf Taipehs Straßen, diese sollten sich der Einfachheit halber damit abfinden: Motorisierte haben stets Vorfahrt!
Essen wird zelebriert wie kaum woanders
Abends wird Taipeh erneut von zwei Migrationsbewegungen erfasst. Die wenigsten Haushalte auf Taiwan besitzen eine Küche im westlichen Sinne, meistens ist allenfalls eine mobile Kochplatte vorhanden. Der allabendliche Gang zum Nachtmarkt oder zum Imbiss nebenan ist daher eine Notwendigkeit und gleichzeitig ein liebgewonnenes Ritual. Die Taipeher lieben es, über ihre Märkte zu streifen, zu probieren und die Besonderheiten der angebotenen Speisen bis ins kleinste Detail zu besprechen. Essen wird hier zelebriert wie kaum woanders. Wer gemeinsam mit Taiwanesen einen Nachtmarkt besucht und bereits am ersten Stand seinen Hunger gestillt hat, dem stehen harte Zeiten bevor. Letzte Station des kulinarischen Streifgangs stellt für viele Taipeher der „Tee-to-go“ dar. Doch keinesfalls handelt es sich hier um herkömmlichen Tee! Der chinesische Name einer großen Teekette 都可, wörtlich „alles geht“, ist dabei Programm. Kalt oder warm, mit Gelee oder Tapioka-Perlen, mit Sojamilch oder Milch als Basis, gemischt mit Schwarz- oder Grüntee – diese Auswahl bildet nur einen Bruchteil des Sortiments ab. Taiwanesen sind besonders auf ihren zhenzhu naicha 珍珠奶茶, wörtlich „Perlen-Milchtee“, stolz. Ursprünglich aus Taizhong, feierte die Spezialität unter der Bezeichnung „Bubble Tea“ auch in deutschen Innenstädten ein kurzes Intermezzo. Gen Ende des Tages ertönt erneut eine unverkennbare Melodie: Wenn „Das Gebet einer Jungfrau“ der polnischen Komponistin Tekla Bądarzewska durch die engen Straßen tönt, strömen die Bewohner der Nachbarschaft aus allen Himmelsrichtungen zu den mit Lautsprechern bestückten Müllwagen. Unter den strengen Augen der Müllabfuhrmitarbeiter – bei genauer Berücksichtigung der Trennrichtlinien – werden so Tag für Tag die Abfälle entsorgt.
Taiwanesische Liebe zu Pudeln und Katzen
Wer im Anschluss derlei Verpflichtungen seinen Fuß in einen der sattgrünen Parkanlagen der Stadt setzt, sieht die Bewohner gemächlich den Müßiggang frönen. Der Klischee-Taiwanese trägt Badeschlappen, hat stets ein kleines Radio zur Hand und nutzt die prächtigen Gärten der Stadt vorwiegend zum Schlafen. Vermeintliche Aufnahmen von Wallgesängen, die durch den Park schallen, entpuppen sich schnell als Übungsmusik von rüstigen Damen, die selig lächelnd Tai-Qi praktizieren. In den Grünanlagen bietet sich, allen voran in dem grünen Gürtel der Stadt entlang des Danshui-Flusses, ein reichhaltiges Sportangebot. Durch seine Nähe zum Meer und zum Yangminshan-Park ist Taipeh darüber hinaus idealer Ausgangspunkt für Wanderungen und Radreisen. Mancher gibt sich jedoch bereits damit zufrieden, seinen Hund im wawache 娃娃車oder im eigens angefertigten Rucksack durch den Park zu chauffieren. Die Liebe der Taiwanesen zu ihren Pudeln und Katzen kennt kaum Grenzen.
Wenn der Sturm über die Straßen fegt…
Nicht überall geht es dermaßen gemächlich zu, das bunte und schrille Ximen im Westen sowie die dutzenden Kaufhäuser im östlichen Xinyi bieten diverse Möglichkeiten anderweitigen Zeitvertreibs. Abseits dieser kommerziellen Zentren folgt die Stadt gleichwohl nach wie vor ihrem eigenen Rhythmus. Nur selten kommt dieser zum Erliegen. Zu diesen Ausnahmen zählen die spätsommerlichen tropischen Stürme und Taifune. Wenn der Sturm über die Straßen fegt, ist ganz Taipeh erfüllt vom Trommeln der Wellblechdächer, die dem Regen die Stirn bieten. Die Fernsehstationen der Insel, sonst spezialisiert auf Verkehrsunfälle und Straßenumfragen, berichten dann unter Zuhilfenahme dramatischer Musik und Einblendungen im Minutentakt, welche Richtung der Sturm eingeschlagen hat. Endlich ist etwas los, möchte man sagen!
Weltstadt im Wartestand
Während derartige Wetterkapriolen Taipeh und die Insel tagelang in Bann halten, hat die Universiade, die zweitgrößte Multisportveranstaltung der Welt, nicht das Potenzial den Rhythmus der Stadt zu verändern. Obwohl von der Stadtregierung massiv beworben, begegnen viele Taipeher dem internationalen Großereignis mit Desinteresse. Am Tag der Eröffnungsfeier verschlägt es nur wenige hundert Menschen zum „Public Viewing“ vor dem Taipeher Rathaus. Offenbar hat die Stadtregierung die Begeisterungsfähigkeit ihrer Bewohner überschätzt. Nicht zuletzt deshalb, werden Taipeher auf Taiwan wenig herzlich tianlongren 天龍人genannt. Die Bezeichnung stammt aus der japanischen Manga-Serie „One Piece“ und tadelt im taiwanesischen Kontext die angeblich allzu anspruchsvollen und ignoranten Bewohner Taipehs. Auch ein Ereignis wie die Universiade, wenngleich die größte internationale Veranstaltung, die die beschauliche Insel je ausgerichtet hat, kann – diesem Narrativ folgend – die Bewohner nur bedingt hervorlocken. So bleibt am Ende das diffuse Gefühl der Provinzialität an dieser Weltstadt im Wartestand haften. Eine liebenswerte und gemütliche Großstadt, die sich schlussendlich doch selbst genügt.
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