Von ICC-Redakteurin Sinja Hahn
Schlenderte man in letzter Zeit die Straßen entlang, so hörte man oft, wie die Leute die Ereignisse der vergangenen Monate als „unvorhergesehen“, „unglaublich“ oder „fast wie Science-Fiction“ beschrieben haben. Werfen wir einen Blick in chinesische Science-Fiction, die zeigt, wie China in die (un-)mögliche Zukunft schaut. Diese drei Autoren lohnen sich wirklich.
Dass sich die menschliche Zivilisation mit einer Viruspandemie konfrontiert sieht, ist tatsächlich ein gängiges Thema in Science-Fiction-Werken – auch in jenen Chinas. Allerdings hat das literarische Genre weitaus mehr an Themen zu bieten, welche die Leser zum Nachdenken anregen – allen voran die Erzählungen der chinesischen Science-Fiction-Autoren Chen Qiufan, Xia Jia und Hao Jingfang. Im Folgenden wird von allen drei Autoren jeweils eine Kurzgeschichte kurz vorgestellt.
Geld und Status – Chen Qiufans „Die Blume von Shazui“
Chen Qiufans Kurzgeschichte „Die Blume von Shazui“ (Shazui zhi hua 沙嘴之花) spielt sich in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen in dem ehemaligen Fischerdorf Shazui ab, das einen rapiden Wandel vom ländlichen zum urbanen Lebensraum erfahren hat. Im Fokus der Handlung stehen ein flüchtiger Mann und eine Prostituierte, deren Wege sich kreuzen. Während in Shazui und den umliegenden Dörfern ein Gebäude nach dem anderen aus dem Boden schießt, müssen die Menschen bis zum Umfallen arbeiten, um sich die fast schon unbezahlbaren Mieten leisten zu können. Man jagt dem „Chinesischen Traum“ nach, strebt nach Geld und Status – denn das ist alles, was in der Gesellschaft zählt. Eine geballte Packung an grobkörnigem Industrialismus, futuristischen Technologien und Gesellschaftskritik.
Definition von Menschsein – Xia Jias „Die nächtliche Parade von einhundert Geistern“
Wer Lust auf eine Mischung aus Science-Fiction und Fantasy hat, der wird bei Xia Jias Kurzgeschichte „Die nächtliche Parade von einhundert Geistern“ (Bai gui yexing jie 百鬼夜行街) fündig. Der Protagonist, ein kleiner Junge, wurde als Baby in der Geister Straße zurückgelassen. Dort wurde er von Geistern gefunden und aufgezogen, die er nun als seine Familie betrachtet. Zuvor ein bekannter Themenpark gewesen, zerfallen die Attraktionen der mittlerweile kaum besuchten Geister Straße nach und nach. Der Junge scheint der einzige Mensch zwischen den ganzen Geistern zu sein, dies hinterfragt er jedoch allmählich. Er findet heraus, was es mit ihnen eigentlich auf sich hat – und stellt fest, dass sie einander gar nicht so unähnlich sind. Die Kurzgeschichte befasst sich vor allem mit der folgenden Frage: Was genau bedeutet Menschlichkeit eigentlich?
Chinas unausgesprochene Realität – Hao Jingfangs „Unsichtbare Planeten“
Eine inhaltliche Struktur, mit welcher der Leser womöglich zunächst nicht rechnet, bietet Hao Jingfangs Kurzgeschichte „Unsichtbare Planeten“ (Kanbujian de xingqiu 看不见的星球). Inspiriert von Italo Calvinos Roman „Unsichtbare Städte“ aus dem Jahr 1972, stellt der Ich-Erzähler in „Unsichtbare Planeten“ seinem Gegenüber – vermutlich einem Kind – elf verschiedene Planeten und ihre fremden Zivilisationen vor. Dabei gibt es einen kontinuierlichen Perspektivwechsel zwischen dem Dialog und dem Reisebericht des Ich-Erzählers. In dieser Kurzgeschichte schafft Hao Jingfang beeindruckende neue Welten: Alle dargestellten Planeten und Zivilisationen sind einzigartig – und spiegeln zwischen den Zeilen verschiedene „unsichtbare“ Facetten des aktuellen China wider.
Ken Lius Sammlung einzigartiger chinesischer Science-Fiction-Erzählungen (2016)
Die drei vorgestellten Kurzgeschichten sind in englischer Sprache in der Anthologie „Invisible Planets: An Anthology of Contemporary Chinese SF in Translation“ von Ken Liu zu finden. Außerdem lohnt es sich durchaus, einen Blick hineinzuwerfen in die anderen aufgeführten Kurzgeschichten von Chen Qiufan, Xia Jia und Hao Jingfang sowie in diejenigen von Liu Cixin, Ma Boyong, Tang Fei und Cheng Jingbo!
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Event-Tipp: Kapsel-Magazin aus Berlin lädt zur Diskussion über chinesische Science-Fiction ein
In einem früheren ICC-Beitrag haben wir das Kapsel-Magazin, das chinesische Science-Fiction-Erzählungen nach Deutschland bringt, bereits vorgestellt. Am 30. Mai 2020 [verschoben auf voraussichtlich Herbst 2020] lädt dieses nun dazu ein, im ACUD Studio in Berlin zusammen mit dem Autor Chen Qiufan, Stadtforscher Miodrag Kuč und Politikwissenschaftlerin Elizabeth Calderón Lüning über das mögliche Bild zukünftiger Städte in China und Deutschland zu diskutieren. Ausgangspunkt der Diskussion bildet Chen Qiufans Kurzgeschichte „Die Blume von Shazui“.
Weitere Informationen sowie Updates zur Veranstaltung vor dem Hintergrund der aktuellen Lage entnehmen Sie bitte dem folgenden Link der Veranstalter: https://acudmachtneu.de/events/1598/kapsel-blume-von-shazui/
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Über die Autoren
Xia Jia: http://www.sf-encyclopedia.com/entry/xia_jia
Chen Qiufan: http://www.sf-encyclopedia.com/entry/chen_qiufan
Hao Jingfang: http://www.sf-encyclopedia.com/entry/hao_jingfang
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