Die chinesische Science-Fiction-Literaturszene erlebt zurzeit eine große Blütephase. Längst werden die fantastischen Storys aus dem Reich der Mitte auch von internationalen Genre-Fans gefeiert. ICC veröffentlicht in Zusammenarbeit mit dem neuen Literatur-Magazin „Kapsel“ chinesische Science-Fiction in übersetzen Auszügen.
Die Science-Fiction-Literaturszene der Volksrepublik China bringt zur Zeit eine tolle Geschichte nach der anderen hervor, die sich über die Landesgrenzen hinaus großer Beliebtheit erfreuen: 2015 gewann Liu Cixin als erster Autor aus Asien den Hugo-Award, den vielleicht wichtigsten Preis für Science-Fiction-Literatur. 2016 folgte ihm seine Kollegin Hao Jingfang. Die Übersetzung von Liu Cixins Millionen-Bestseller „Die drei Sonnen“ war in Deutschland binnen kürzester Zeit vergriffen.
Science-Fiction-Literatur aus China – „Chi Hui – Das Insektennest“
Der folgende Auszug stammt aus „Chi Hui – Das Insektennest“ 迟卉 – 虫巢 und wurde zuerst im Jahr 2008 in der Zeitschrift Kehuan Shijie 科幻世界 (Ausgabe 12) veröffentlicht. Die chinesische Übersetzung haben Lukas Dubro und Chong Shen bereitgestellt. Die Geschichte spielt auf dem weit entfernten Planeten Tantatula, auf dem die friedvollen Tanla seit Tausenden von Jahren Leben. Doch die Menschen wollen den Planeten zu einem Knotenpunkt für den interstellaren Raumverkehr umbauen. Als der Sohn eines hohen Beamten verschwindet, droht der Konflikt zwischen Menschen und Tanla zu eskalieren. Im ersten Kapitel besucht der Gesandte Chen Qingyan die Insektennest-Hüterin Yi’ansa Rui, um sie zu bitten, ihm bei der Suche nach dem Verschollenen zu helfen.
1. Kapitel: Der Reisende
Ein ausgesprochen hübscher Nanhai
Yi’ansa summte eine leise Melodie, während sie den Staub von den Blättern wedelte, die blaufarbenen Spinnen verscheuchte, die zwischen den Ästen ihre Netze zu spannen versuchten, und Wasser auf die Wurzeln goss. Nachdem sie mit der Arbeit fertig war, erhob sie sich, trat einen Schritt zurück und musterte aufmerksam ihren Schützling. Als sie den Baum vor einem Jahr in ihre Obhut genommen hatte, hatte er ihr gerade mal bis zur Hüfte gereicht. Dank ihrer guten Pflege war er inzwischen so groß wie sie. Der braune Stamm hatte die Silhouette eines Menschen angenommen, grüne Blätter sprossen aus Schopf und Armen. Er gedieh prächtig.
Zufrieden betrachtete Yi’ansa den Nanhai*. Zwar trug sein Körper an einigen Stellen noch die Maserung eines Baums, auf dem Gesicht war allerdings schon ein blasses Lächeln zu erkennen. Ein gutes Zeichen.
Vielleicht würde er schon bald aus seinem tiefen Schlaf erwachen, um sich in einen Mann zu verwandeln. Aber wahrscheinlich würde das nicht hier passieren … Yi’ansa unterdrückte die Trauer, die tief in ihrem Innern aufwogte. Mit ihren Händen streichelte sie das Gesicht des Jungen. „Wach auf, wach auf, hörst du mich nicht? Wach auf, wach auf, ich warte auf dich.“ Sie sang eines jener alten Lieder, von denen es hieß, sie könnten von den Nanhai in ihren Träumen gehört werden.
„Dein Zwilling?“, ertönte plötzlich eine harsche Stimme hinter ihr. „Ein hübscher Baum.“ Mit rotem Kopf fuhr Yi’ansa herum und blickte in das Gesicht eines Taiyang. Wer sonst konnte so respektlos sein! Wusste er nicht, dass es verboten war, das Pflegeritual der Tanla zu stören? Aber was konnte sie schon ausrichten? Mit einem Taiyang zu reden, war reine Zeitverschwendung.
„Was ist Euer Begehr?“, fragte sie kühl in der alten Sprache ihres Planeten. Ihr Gegenüber ließ zunächst nicht erkennen, ob er sie verstanden hatte. Als er antwortete, war sein Tanla fast ohne Akzent.
„Ich bin Biologe und suche die Hüterin des Insektennests.“ „Ihr habt sie gefunden“, sagte Yi’ansa. Mühsam schob sie den schweren Topf mit dem Baum darin ins Licht und zeigte in Richtung des Wohnzimmers.
„Lasst uns nach draußen gehen, Reisender. Dort können wir in Ruhe sprechen“, sagte sie.
Nicht alle Räume der Tanla-Häuser besaßen ein Dach. Über dem Wohnzimmer erstreckte sich ein Baldachin aus ineinander gewachsenen Bäumen, die bis in den Himmel ragten. Einige rohbehauene Steine auf dem Boden dienten als Tische und Stühle.
Yi’ansa schenkte dem Reisenden und sich Wasser ein und bedeutete ihm, sich zu setzen. Vorsichtig musterte sie den ungebetenen Gast, der selbst für einen Taiyang ungewöhnlich jung aussah. Die schwarzen Augen und kräftigen Hände verliehen ihm kalte Autorität. Vor dem Tor stand sein Magnetgleiter, auf dessen Motorhaube ein Sack lag. Es schien, als käme er nicht unvorbereitet. Yi’ansa reichte ihm lächelnd die Hand.
„Mein Name ist Yi’ansa Rui. Ich bin die Hüterin des Insektennests“, sagte sie. „Chen Qingyan“, sagte er, „Biologe, Abenteurer.“ Sein Händedruck war leicht. „Was führt Euch zu mir?“, fragte sie wieder auf Tanla. „Ich möchte zum Insektennest“, antwortete Chen Qingyan, der sich nervös die Hände rieb. „Zum Leige-Nest, um genauer zu sein. Und zwar so schnell es geht.“
„Aber wisst Ihr denn nicht, was heute für ein Tag ist? Am Abend findet das Opferfest statt! Als Hüterin ist es meine Pflicht, die Teilnehmenden zum Nest zu führen und die Zeremonie zu leiten. Ich werde erst in zehn Tagen, nein, einem halben Monat zurück sein“, sagte Yi’ansa und schürzte die Lippen.
„Wenn Ihr einen Ausflug zum Nest wünscht, so kommt in einem halben Monat wieder.“
„Das ist zu spät“, sagte der junge Mann entschieden und blickte Yi’ansa fest in die Augen. Aufgeben kam nicht in Frage. „Ich muss jetzt mit.“
„Das kann ich nicht zulassen. Ihr werdet euch einen halben Monat gedulden müssen.“
„So lange kann mein Freund nicht warten. Seit drei Tagen wird er vermisst. Er war im Leige-Nest unterwegs.“ Yi’ansa ballte die Fäuste. „Ihr“, fragte sie zornig, „und dieser Kerl habt die gleichen Wurzeln?“
„Wenn du damit meinst, dass er und ich auf der gleichen Schule waren, hast du recht. Allerdings stecken wir nicht unter einer Decke“, gab Chen Qingyan zur Antwort und fügte betont förmlich hinzu, „es ist meine Pflicht, den vermissten Mitbürger Zhanmusi zu finden. Unsere Regierung schickt mich, um sicherzugehen, dass alle Mitglieder der Expedition, sicher zurückkehren.“
„Pflicht“, sagte Yi’ansa nachdenklich, „bedeutet das, dass Ihr die Früchte seiner Saat tragt? Es ist Euer Wunsch, ihn zurückzubringen. Allerdings kann ich weder ihm noch Euch etwas garantieren. Die Straßen gehören den Taiyang, die Erde den Tanla. Da Euer Freund die Straßen der Menschen verlassen hat, steht er nicht länger unter dem Schutz des Insektennest-Friedensvertrags. Falls Ihr tatsächlich vorhabt, ihm zu folgen, verliert der Vertrag auch für Euch seine Wirkung.“
„Das spielt keine Rolle. Ich werde ihn zurückbringen – oder das, was von ihm übrig ist.“
Yi’ansa stand auf und ging an den Rand des Wohnzimmers. Von hier aus konnte sie die Äste und Blätter des Nanhai sehen. „Reisender,“ sagte sie leise, „in den letzten Tagen sind Dinge passiert. Vorfälle, die sich in der langen Geschichte dieses Planeten noch nie zuvor ereignet haben. Euer Freund hat ein Zwillingspaar entführt und es gezwungen, ihn zum Insektennest zu bringen. Als wäre dieses Verbrechen nicht schlimm genug, musste auch noch die Tanta’nong-Vollversammlung vorgezogen werden. Und jetzt bittet Ihr mich, jahrhundertealte Regeln zu brechen und Euch, einen Fremden, zur Zeremonie zu geleiten, damit Ihr ebenfalls das Nest betreten könnt.“
„Wenn ich mit leeren Händen wiederkomme, wird es dabei nicht bleiben“, sagte Chen Qingyan, „Zhanmusi Sun ist nicht nur Biologe, sondern Erbe eines hohen Beamten. Stößt ihm etwas zu, hilft euch auch kein Papier mehr. Dann kommt die Kavallerie.“
„Traue niemals einem Taiyang“, sagte Yi’ansa und lachte spöttisch. „Ich werde Euer Anliegen überdenken, Reisender. Allerdings werde ich Euch vor der dreizehnten Stunde nicht antworten können. Ich muss erst noch das Ende der Vollversammlung abwarten.“
„Ich kann warten“, sagte Chen Qingyan nickend, „aber nicht sehr lang.“
„Die Geduld der Menschen ist so kurz wie ihr Leben“, erwiderte Yi’ansa. Der junge Biologe tat, als hätte er die Ironie nicht gespürt. Seine Miene sorgenvoll.
*Nanhai-Baum bedeutet wörtlich übersetzt: Jungenbaum
Über „Kapsel“
Das in Berlin herausgegebene Magazin „Kapsel“ ist voll und ganz Science-Fiction aus China gewidmet ist. In jeder Ausgabe von Kapsel wird eine Kurzgeschichte aus dem chinesischen Science-Fiction-Kosmos präsentiert, die nie zuvor in Deutschland veröffentlicht wurde. Zugleich wird in dem Heft ein Gespräch über Zukunft, China und Literatur begonnen. Autorinnen und Autoren werden zu den Produktionsbedingungen ihrer Texte befragt; enthusiastische Leserinnen und Leser teilen mit Ihnen ihr Wissen und ihre Gedanken; in Illustrationen und einem Soundtrack werden das Narrativ der Erzählung aufgenommen und weitererzählt. http://kapsel-magazin.de/
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