In China wird vielerorts den architektonischen Spuren der Vergangenheit hinterher getrauert, die den Bauten der Modernisierung weichen mussten. Seit einigen Jahren findet jedoch ein touristisch motiviertes Umdenken statt. Vermehrt werden historische Stätten restauriert, um auch gerade Auslandschinesen das Reisen in Chinas Vergangenheit zu ermöglichen. Redakteur Volker Stanislaw hat dies in der südchinesischen Hafenstadt Shantou selbst mitverfolgt.
Shantou ist die wirtschaftliche Hauptstadt der Region Chaoshan. Sie liegt im Nordosten der südlichen Provinz Guangdong, direkt am südchinesischen Meer an der Grenze zur Provinz Fujian. Das Klima ist entsprechend subtropisch-maritim. Shantou ist mit mehr als fünf Millionen Einwohnern eine chinesische Kleinstadt, die Bewohner sind stolz auf ihren eigenwillig klingenden Dialekt. Menschen, die Mandarin sprechen, können sich mit Shantou-Chinesen, die nur ihren Dialekt sprechen, ausschließlich über die Schriftzeichen verständigen. Der Chaoshan-Dialekt gilt in China als einer der schwierigsten Dialekte überhaupt.
Gesamte Altstadt im Umbau – Platz schaffen für einen weiteren Wolkenkratzer?
Wer wie unser Redakteur im Jahr 2009 zum ersten Mal als Ausländer Shantou besuchte, hatte vorher wohl noch nie davon gehört. Aus familiären Gründen zog es Volker Stanislaw seitdem aber immer wieder in die kleine Hafenstadt. Bei jedem Besuch stand die Besichtigung der historischen Altstadt ganz oben auf dem Programm. In 2017 dann die Überraschung: Das gesamte Viertel hatte sich in eine riesige Baustelle verwandelt, die alten Gebäude waren fast komplett in die chinatypischen grünen Bambusgerüste gekleidet. Vom Flair der vergangenen Jahre war kaum etwas übrig geblieben, nur ein, zwei urige Lädchen waren noch vorhanden, versteckt unter den Gerüsten. Die große Frage: Mussten hier wieder – zugegeben angestaubte – historische Schätze den großen Wohnkomplexen, Bürogebäuden oder schlichtweg der städtischen Verkehrsstruktur Platz machen?
Wirtschaftlich im Hintertreffen, touristisch langsam vergessen
Shantou, einst noch Swatow genannt, war zeitweilig der drittgrößte Hafen Chinas – hinter Shanghai und Guangzhou. Nach dem Ende des zweiten Opiumkrieges lebten rund zehn Millionen Shantou-Chinesen in der Diaspora. Im Jahr 1980 wurde Shantou eine von vier Sonderwirtschaftszonen Chinas. Doch die Wirtschaft entwickelte sich hier nicht so erfolgreich wie beispielsweise in Shenzhen oder Xiamen. Ab den 1980er-Jahren bis in die 1990er hinein gab es bereits erste Ströme von Überseechinesen, die Shantou aus nostalgischen Gründen besuchen wollten. Seit der Jahrtausendwende blieben die Touristenmengen hingegen aus. Li Li, Mitarbeiter des lokalen Geschichtsmuseums, kennt die Gründe: „Das Problem ist, dass die Generation der Emigranten ausgestorben ist. Diese kamen gerne zurück, besuchten ihre Familien, flanierten durch altbekannte Gassen, die sie noch aus ihrer eigenen Kindheit kannten. Aber für die zweite, dritte Generation der Auswanderer stellt sich die Lage völlig anders dar. Mit der Altstadt verbinden sie wenig, der Anblick maroder, baufälliger Gebäude erschreckt eher. Es mangelt hier an touristischen Highlights. Herr Zhuan, stolzer Besitzer eines Restaurants nahe des Overseas Chinese Hotels, beklagte ebenfalls das Wegbleiben der Überseechinesen: „Seit Jahren hat sich keiner mehr hierhin verirrt.“
„Kleiner Park“ in der Altstadt und Qilou als Fenster in die Vergangenheit
Der berühmteste Ort der Altstadt ist der „Kleine Park“ 小公园. Er wird umrahmt von einer der größten, noch erhaltenen historischen Hafenanlagen Chinas. Charakteristisch für die Gegend sind die Qilou 骑楼 genannten Gebäude, die in der ersten Etage über zurückgesetzte Flurgänge verfügen. Viele der Gebäude stammen aus den 1920er- und 1930er-Jahren. Die damaligen Überseechinesen versuchten, ihr Kapital vor der Großen Depression zu retten und steckten es in die Häuser. Es war dieses traditionelle Flair von einem kleinen, schönen Pavillon im Zentrum des Chinatown, das lange Zeit besonders anziehend wirkte. Die Qilou-Gebäude, die mit schönen Verzierungen aus der Kolonialzeit geschmückt sind, trugen einen wesentlichen Teil dazu bei.
Während der japanischen Besatzungszeit und nach der kommunistischen Revolution fanden sich jedoch immer mehr herrenlose, verlassene Häuser, Hotels und Handelsbüros vor. Viele Eigentümer hatten China erneut verlassen. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die alten Gebäude über Jahrzehnte nicht weiter bewohnt oder geschützt. Die Eingänge der Häuser wurden zugemauert, die Fenster zugenagelt. In den meisten Gebäuden wurden die oberen Etagen gesperrt, Geschäfte gab es – wenn überhaupt – nur im Erdgeschoss. In einigen Häusern wurden sogar als Sicherheitsmaßnahmen die Treppenhäuser entfernt. Auf den Dächern sah man Kakteen, Palmen. Die Natur holte sich das Ihre zurück und wuchs wild, wo vor Jahrzehnten noch das Leben pulsierte. In manchen Fällen ließen sich die ursprünglichen Besitzer nicht mehr ausmachen oder waren unbekannt verzogen. War es da nicht abzusehen, dass irgendwann große Wohnanlagen die in China generell teuren Bauflächen besiedeln würden?
Shantou soll spirituelle Heimat für Auslandschinesen werden
Im Jahr 2016 besuchte der Parteisekretär Guangdongs, Hu Chunhua, die Stadt und sah sofort das Potential, was in Shantou steckt. Er erklärte, die Gegend um den „Kleinen“ Park sei genau das, was Shantou von anderen Städten unterscheide. Historiker Li Li führt dies im Gespräch aus: „Der kleine Park ist wie ein Tempel zu sehen, zu dem Überseechinesen pilgern und ihre alte Kultur live erleben können. Auf dieser relativ kleinen Fläche sind noch alle Elemente der traditionellen Kultur vorhanden. Diese Kultur haben ihre Vorfahren damals von hier aus in die weite Welt getragen und die Mentalität der Heimat hat sie dort zum Erfolg geführt.“ Ende 2016 wurde der Beschluss gefasst, die schon ziemlich in die Jahre gekommene und teils baufällige Altstadt zu renovieren. Der Plan beinhalte den Gedanken, eine Art spiritueller Heimat für die Überseechinesen zu schaffen, die mit Shantou verwurzelt sind. Dass diese Überseechinesen parallel auch Investitionen für die heimische Wirtschaft mit sich bringen, war herzlich willkommen.
Norman Lee ist einer dieser Investoren. Er ist Konzertpianist aus Hongkong, aber seine Vorfahren kommen aus Shantou. Sein Großvater baute in der Stadt eine Villa im europäischen Stil. In den 1920er-Jahren wanderte die Familie aber aus und sollte nie mehr wieder zurückkommen. Bis Norman Lee die alte Villa eines Tages wieder in seinen Besitz nehmen wollte. Trotz geklärter Eigentumslage des Grundbesitzes musste er zuerst 1,2 Mio. RMB an eine Textilfirma zahlen, um diese erfolgreich aus der Villa zu vertreiben. Lee möchte nun in dieser Villa ein Klavier-Museum eröffnen und dort künftig Konzerte und Musik-Festivals veranstalten. Es reicht sicher nicht, nur den ursprünglichen Charakter der Häuser wiederherzustellen, um die Altstadt zu retten. Mit kulturellen Events und touristischen Aktionen, wie den von Lee geplanten, dürfte Shantou aber auch langfristig wieder zu einer beliebten Reisedestination werden.
Shantou-Gemeinschaft lockt wieder zahlreiche Besucher an
Mittlerweile häufen sich jedenfalls wieder die Reisegruppen, die sich am „Kleinen Park“ versammeln, um das obligatorische Gruppenfoto zu schießen. Kommt man mit den Reisenden ins Gespräch, kann man interessante Hintergründe erfahren. Einige der Touristen besuchen Shantou zum ersten Mal, doch ihre Vorfahren sind teils vor drei Generationen ausgewandert. Es gibt Reisende aus Malaysia, aus den USA oder aus Vietnam. Alle kommen nun „heim“, um das China zu sehen, was ihre Vorfahren erlebten und sie selbst nur vom Hörensagen kannten. Von Bangkok, Kuala Lumpur und Phnom Penh wurden extra wegen der dort lebenden Shantou-Gemeinschaft wieder Direktflüge eingeführt. Wang Yi, nun in Kambodscha heimisch, beschreibt die Geschichten ihrer Vorfahren so: „Solange man den lokalen Dialekt fließend sprechen konnte, standen einem die Türen offen. Shantou war damals eine große Handelsmetropole und in vielen internationalen Metropolen gab es bereits Communities von dort. Oftmals haben sich die Leute draußen in Garküchen getroffen, um den heimatlichen Dialekt zu sprechen und die geliebte Reissuppe zu genießen.“
Maler Song dokumentiert mit Smartphone die Reise in die Vergangenheit
Unser Redakteur traf zu seiner freudigen Überraschung den Maler Song Weicong wieder, der am „Kleinen Park“ ein beschauliches Atelier betreibt. Der angeschlossene Laden ist der Geheimtipp, wenn es um Stadtpläne, Postkarten und Feinschmeckerkarten für Shantous geht. Mittlerweile hat Song aber zudem eine wichtige Dokumentationsfunktion übernommen. Seine Ölgemälde mit Motiven aus der Stadt zeigen noch immer das klassische Shantou. Mit seinem Smartphone fotografiert und veröffentlicht Song Weicong zugleich Bilder der neuen Wirklichkeit: Fotos von Baustellen, viel Schutt und Asche, aber auch von den fertig renovierten Häusern, die Shantou im neuen Glanz seiner faszinierenden Vergangenheit erstrahlen lassen.
Auch wenn es größtenteils nicht die ursprünglichen Steine sind, die zum Wiederaufbau genutzt werden: Shantous Altstadt konnte sich durch die staatlich angeordnete Wiederbelebung wohl vor dem endgültigen Verfall retten. Und selbst ohne eigene Wurzeln in der Gegend, lohnt sich der Besuch auf jeden Fall. Shantou lädt dazu ein, ohne Ziel durch die Altstadt zu schweifen und die schönen Gebäude zu bewundern. Ist da nicht sogar noch der Duft der köstlichen Reissuppe von damals in der Luft?
Text und Fotos: Volker Stanislaw
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