In dieser Reihe stellen wir typische Konflikte in der interkulturellen Kommunikation von Deutschen und Chinesen vor. Dieses Fallbeispiel behandelt die chinesische Anpassung an die Direktheit der deutschen Kommunikation. Es beschreibt somit erstmals einen Konflikt aus chinesischer Sicht, kann aber auch Deutschen helfen, die Perspektive zu wechseln.
Bewerbungsgespräch mit Anleitung
Fallbeispiel:
Chen hat erst vier Bewerbungen für ein Praktikum verschickt, da kommt schon die erste Einladung zum Bewerbungsgespräch. Als er seinem Flurnachbarn Jan davon erzählt, bietet der ihm an, das Gespräch gemeinsam zu proben. Chen freut sich über die Hilfe und am nächsten Abend üben sie zusammen.*
Jan gibt Chen anschließend sehr ausführliche Tipps, wie man sich in Deutschland verhalten solle, obwohl er nicht wie Chen VWL studiert. Er erklärt, dass vor allem Chens zurückhaltende Art nachteilig sein könne. Er solle doch selbstbewusster auftreten, ruhig auch kritische Fragen stellen. Darüber hinaus sei es angebracht, die eigenen Stärken hervorzuheben, die höflichen Floskeln könne er sich hingegen sparen.
Chen freut sich über die praktischen Hinweise und verinnerlicht sie in den nächsten Tagen. Am Tag des Bewerbungsgesprächs fühlt er sich gut vorbereitet. Das Gespräch läuft nicht schlecht, doch als er zwei Tage später einen Anruf bekommt, weiß er nicht, wie ihm geschieht.
Der Bereichsleiter, den er beim Vorstellungsgespräch kennengelernt hat, erklärt ihm, dass man sich für einen anderen Bewerber entschieden habe. Chens Qualifikationen seien zwar optimal für den Job, sein aggressives Auftreten beim Treffen habe hingegen keinen guten Eindruck hinterlassen. Chen verabschiedet sich höflich, legt auf und seufzt voller Enttäuschung. Hätte er etwa nicht auf Jan hören dürfen?
Fragen:
Was hat der chinesische Bewerber aus deutscher Sicht falsch gemacht? Welche unterschiedlichen Kommunikationsmuster in China und Deutschland sind denkbar? Im folgenden Abschnitt können Sie aus verschiedenen Antwortmöglichkeiten auswählen. Die jeweilige Erklärung erscheint mit einem Klick auf den Bewertung?-Knopf.
Antwortmöglichkeiten
Antwort 1: Chens Qualifikationen sind nicht ausreichend für die Praktikumsstelle, der Mitarbeiter am Telefon möchte dies jedoch nicht direkt aussprechen. Diese Ausreden sind in Deutschland nicht ungewöhnlich. [expand title=“Bewertung?“]In Deutschland kommt es bei Ablehnungen häufig vor, dass bestimmte Phrasen als Gründe genannt werden. Diese sind aber in der Regel positiv oder neutral. Drastische Kritik wie im Beispiel als Ausrede zu wählen wäre sehr ungewöhnlich.[/expand]
Antwort 2: Da Jan nicht wie Chen VWL studiert, sind seine Hinweise nicht hilfreich. In Deutschland unterscheiden sich die Bewerbungsgespräche und -verfahren in verschiedenen Branchen vollständig voneinander. [expand title=“Bewertung?“]Zwar gibt es je nach Branche und Fach gewisse Unterschiede in den Bewerbungsverfahren deutscher Unternehmen und Organisationen. Grundsätzliche Hinweise für das Bewerbungsverhalten können aber durchaus für verschiedene Bereiche hilfreich sein.[/expand]
Antwort 3: Jans Tipps sind zwar grundsätzlich richtig, er hat aber nicht daran gedacht – und sich nicht vergewissert – wie Chen sie umsetzen würde. Im Bewerbungsgespräch tritt Chen dann leider zu aggressiv auf, was eigentlich nicht seine Art ist. [expand title=“Bewertung?“]Diese Begründung trifft aller Wahrscheinlichkeit nach zu. Sich für ein Bewerbungsgespräch völlig zu verstellen scheitert in den meisten Fällen. Anpassung ist zwar möglich und sinnvoll, hierfür sollte aber professionelle Hilfe genutzt werden.[/expand]
Antwort 4: Chen ist für die Praktikumsstelle gänzlich überqualifiziert. Der Bereichsleiter ist durch Chens überragende Fähigkeiten eingeschüchtert und will sich keine Konkurrenz ins Haus holen. [expand title=“Bewertung?“]Diese Erklärung ist wie auch die Antwort Nummer 1 unwahrscheinlich. Kaum ein Bereichsleiter (eines intakten Unternehmens) wird einen fähigen Praktikanten ablehnen, weil er um seine Position fürchtet.[/expand]
Lösungsansatz:
In Deutschland und China finden sich bestimmte Abweichungen in der Bewerbungskultur, die teilweise im Beispiel angesprochen wurden. Verallgemeinernd ist festzustellen, dass in China im persönlichen Gespräch mit dem potentiellen Vorgesetzten traditionell Bescheidenheit, Höflichkeit und positive Bestätigung im Vordergrund stehen.
Demgegenüber kann in Deutschland tatsächlich auch ein sehr selbstbewusstes Auftreten erwünscht sein. Genaue bis kritische Fragen zu Position oder Unternehmen sind ebenso auf beiden Seiten möglich. So könnte der potenzielle Arbeitgeber beispielsweise fragen: „Sie haben sich bestimmt schon über unser Unternehmen informiert, wie könnten wir unseren Internetauftritt Ihrer Meinung nach verbessern?“ Hierauf darf und sollte man mit konstruktiven Verbesserungsvorschlägen reagieren.
Es ist jedoch zu beachten, dass es ein akzeptiertes Maß gibt, das einzuhalten ist. Wer zu provokativ fragt oder antwortet, wirkt aggressiv, wer sich zu selbstbewusst gibt, kann arrogant erscheinen. Das macht auch in Deutschland keinen guten Eindruck. Da solche feinen Unterschiede nicht leicht zu erkennen sind, bietet es sich gerade für ausländische Studierende in Deutschland an, einen Kurs für die Bewerbungsvorbereitung zu belegen.
Haben Sie als Chinese ähnliche Erfahrungen in Deutschland gemacht, die Sie mit uns teilen möchten? Dann freuen wir uns auf Ihren Kommentar. Auch Fragen beantworten wir gerne.
* Die Namen im Fallbeispiel sind frei gewählt. Das Beispiel ist leicht abgewandelt erschienen als Teil des Artikels „Kritischer Kulturassimilator Deutschland für chinesische Teilnehmende“, in Bolten, Jürgen; Rathje, Stefanie (Hrsg.): Interculture Journal, Jg. 11, Nr. 17, August 2012, S. 27-46.
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