Von ICC-Redakteur Malte Steffenhagen
Ein geflügeltes Wort in China besagt: „Die Familie kommt an erster Stelle, erst danach das eigene Glück!“ (家庭第一, 幸福其次). Ein konsequentes Outing als schwul oder lesbisch ist demnach auch heute noch die große Ausnahme. Gründe dafür sind auch in den chinesischen Geistestraditionen zu finden. Schauen wir uns einmal genauer an, was Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus zur gleichgeschlechtlichen Liebe zu sagen haben.
In dieser ICC-Reihe wird das wichtige Thema der Homosexualität in China näher betrachtet. Der erste Teil geht auf gleichgeschlechtliche Beziehungen in der chinesischen Vergangenheit ein. In China berufen sich Intellektuelle und Traditionalisten gerne auf die über 5000-jährige Geschichte. Wie die Situation im alten China in Hinblick auf Homosexualität allerdings wirklich aussah, lässt sich heute nur erahnen. Es gibt in der chinesischen Literatur aus dem Altertum einige Anekdoten, die von Affären zwischen Männern berichten. Auch in der Malerei gibt es Kunstwerke, die von gleichgeschlechtlicher Zuneigung zeugen. Selbst über große Herrscher kursierten Gerüchte, dass sie sich gerne mit anderen Männern vergnügten.
Unterscheidung zwischen Emotion und Körperlichkeit
Jedoch ist nicht belegt, inwiefern diese Neigungen auch gesellschaftlich akzeptiert waren. Es gibt Vermutungen, dass das Thema Homosexualität im alten China keinerlei gesellschaftliches Problem darstellte. Naheliegender ist aber, dass vermutlich kleine, aber feine Unterschiede gemacht wurden. Auf der einen Seite stand das Konzept des tongxinglian 同性恋, wörtlich jemand der sich in das gleiche Geschlecht verliebt, und auf der anderen Seite hingegen etwas, das mit nanfeng 男风, wörtlich „männlichem Wind“, umschrieben wurde. Dabei handelt es sich um Verhalten, bei dem zwei Männer zwar miteinander Geschlechtsverkehr haben, wo von einer emotionalen Bindung jedoch weniger die Rede ist. Gleichgeschlechtliche Liebe steht im Gegensatz zu lediglich gleichgeschlechtlichem Geschlechtsverkehr. Letzterer war vermutlich wesentlich leichter zu tolerieren. Die Gründe hierfür liegen im von strengen Regeln geprägten Konfuzianismus, der bis heute die chinesische Gesellschaft prägt.
Konfuzius sagt: Gründe eine Familie und sorge für Nachkommen
Die drei größten Religionen bzw. Philosophien, die das Land seit Jahrtausenden prägen – Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus – kommen zu unterschiedlichen Urteilen über gleichgeschlechtliche Liebe. Der strenge Konfuzianismus, dessen Normen, Vorschriften und feste Hierarchie für Ordnung und Harmonie sorgen sollten, vertritt ganz klassische Rollenbilder der Geschlechter. Kurz gesagt: Ein Mann soll sich verhalten, wie einem Mann gebührt, und eine Frau eben, wie es einer Frau gebührt. Dies beginnt schon beim Kleidungsstil und gilt umso mehr für die Lebensweise. Wenn ein Mann sich wie eine Frau kleiden möchte, ist dies aus der Rollenperspektive einfach inakzeptabel. Generell blieb das oberste Ziel von Mann und Frau, zu heiraten und eine Familie zu gründen, um damit die nächste Generation zu sichern.
Vor allem männliche Nachkommen waren besonders wünschenswert. Schließlich braucht jede Familie ein künftiges Familienoberhaupt (jiazhang 家长), das sich nach dem eigenen Ableben um den Ahnenkult kümmert. Dieser ist bis heute in China ein wichtiger Faktor im Streben nach einer eigenen Familie. Nachkommen sind dafür zuständig, ihren Ahnen im Jenseits ein gutes Nachleben zu ermöglichen. So werden zum jährlichen Qingming-Fest (qingming jie 清明节) aus Papier nachgestellte Gegenstände verbrannt, die dem Verstorbenen im Jenseits nutzen können – Handys oder Autos aus Papier sind noch die wenigster skurril anmutenden Gegenstände, die jedes Frühjahr auf den Familiengräbern verbrannt werden.
Homosexualität im Daoismus: Yin und Yang entscheiden
Auch im daoistischen Weltbild, in dem sich vieles um die Balance von yin 阴 und yang 阳 dreht, ist Homosexualität nicht besonders passend. Alles Männliche wird grundsätzlich mit yang-Eigenschaften verbunden und alles Weibliche entsprechend mit yin-Attributen. Erstrebenswert ist es, dass yin und yang ausgeglichen sind. Wenn sich nun also zwei Männer oder zwei Frauen miteinander vergnügen, dann entsteht ein Überschuss an yin oder yang und das Gleichgewicht ist in Gefahr. Daher ist eine lebenslange Liebesbeziehung unter Gleichgeschlechtlichen auch im Daoismus nicht empfehlenswert.
Homosexualität im Buddhismus: ein offenes Fragezeichen
Der Buddhismus eröffnet neue Möglichkeiten, denn im dazugehörigen Denken wird Homosexualität per se gar nicht thematisiert. Bekanntlich lautet die oberste Prämisse der indischstämmigen Glaubensrichtung, keinem anderen Lebewesen Leid zuzufügen. Für Liebe, Beziehungen und Geschlechterrollen gibt es hingegen keine besonders strengen Regeln, wie das im Konfuzianismus der Fall ist. Lediglich Geschlechtsverkehr an sich wird im Buddhismus kritisch gesehen, da er den eigenen Weg zur Erleuchtung erschweren könne. Empfehlenswert ist hier demnach die Enthaltsamkeit. Das Urteil über die Frage der gleichgeschlechtlichen Liebe bleibt demnach offen.
Homosexualität in China traditionell Auslegungssache
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich im frühen Daoismus und Buddhismus wenig konkret zu Homosexualität geäußert wird. Der Konfuzianismus zeigt sich aufgrund der festen Geschlechterrollen insbesondere im Familiengefüge weniger offen für gleichgeschlechtliche Beziehungen, doch auch er bietet Interpretationsmöglichkeiten. Da die traditionellen Denkschulen Chinas nicht das christliche Konzept von Sünde kennen, gibt es auch keine expliziten Verbote über gleichgeschlechtlichen Austausch. Solange eine Familie gegründet wird und für Nachkommen gesorgt wird, ist alles andere zweitrangig bis unproblematisch.
Wenn man also in einer Ehe lebt und Kinder bekommen hat, so lässt sich argumentieren, spricht keine Regel dagegen, die eigene Homosexualität auszuleben. Hierarchie und Familienstammbaum sind schließlich gesichert und was darüber hinausgeht, wird in den konfuzianischen Schriften nicht thematisiert. Obwohl die ursprüngliche Tradition dies eigentlich nicht hergibt, wurde und wird der Konfuzianismus dennoch mitunter bemüht, um gegen homosexuelle Neigungen zu argumentieren. Wie sich die Situation für Schwule und Lesben im heutigen China darstellt, wird im nächsten Teil dieser Reihe geklärt.
Artikelbild: flickr / kris krüg / Rechte
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A.Schermuly meint
Sehr interessant und lesenswert, Herr Steffenhagen! Ich habe ähnliche Berichte von KollegInnen in China gehört. Der geschichtliche Hintergrund hat mir bisher jedoch gefehlt. Danke.
Mirija meint
Spannend!