Jeder, der schon einmal Chinesen unterrichtet hat – sei es in einem Sprachkurs, in einer Fortbildung oder in einem Seminar – weiß, dass es Besonderheiten im chinesischen Lernverhalten gibt. Aus deutscher Sicht erscheinen manche Verhaltensweisen seltsam und können leicht zur Verunsicherung der Lehrenden führen…
Wir haben 32 deutsche Lehrende interviewt, die seit mehreren Jahren Unterricht, Seminare oder Weiterbildungen für Chinesen durchführen. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse aus den Gesprächen zusammengefasst.
Chinesisches Lernverhalten als statische Größe?
Es ist vorab darauf hinzuweisen, dass eine solche Befragung nicht „das“ chinesische Lernverhalten schlechthin erfassen kann. Es handelt sich lediglich um subjektive Beobachtungen und Einschätzungen, die verallgemeinert werden. Verlässlichere Daten müssen umfangreiche Untersuchung der interkulturellen Wissenschaft liefern.
Die Erklärungsversuche, die jeweils den deutschen Beobachtungen folgen, beruhen auf der einschlägigen Forschungsliteratur. Auch sie können nicht erschöpfend das chinesische Verhalten erklären, sondern sollen Denkanstöße für den deutsch-chinesischen Austausch geben.
Besonderheiten im chinesischen Lernverhalten
Deutsche Lehrende und Ausbilder haben in den Interviews vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lernkultur diese drei Aspekte als besonders schwierig im deutsch-chinesischen Unterrichtsalltag beschrieben.
„Chinesen sind im Unterricht sehr passiv“
Dies war mit über zwei Dritteln die meistgenannte Besonderheit. Während in deutschen Seminarräumen gerne und viel diskutiert werde, hielten sich die Chinesen eher zurück. Man müsse eine Person direkt ansprechen, um eine Meinung oder Antwort zu bekommen.
Erklärungsversuch: Auch in Deutschland ist er nicht unbekannt, in China scheint frontaler Unterricht indes noch verbreiteter zu sein. Die studentische Zurückhaltung lässt sich zum einen mit chinesischem Kollektivverhalten erklären, wonach sich die Einzelperson nicht in den Mittelpunkt drängen möchte. Kontroverse Rückfragen könnten zum anderen auch als Kritik am Lehrer gedeutet werden.
„Chinesen sagen Ja, ohne alles verstanden zu haben“
Auch dieser Punkt wurde oftmals genannt. Chinesische Studierende lächelten oder bejahten alles, auch wenn sie die Frage kaum verstanden hätten. Einige Deutsche fanden dies nicht nur komisch, sondern waren dadurch auch verärgert.
Erklärungsversuch: Lächeln kann in China ein Zeichen von Verlegenheit sein, z.B. wenn der Befragte eine Antwort nicht weiß. Das ist in der Regel keineswegs als Beleidigung gedacht. Ja sagen bedeutet nicht immer inhaltliche Zustimmung, sondern eine erste Kenntnisnahme. Dass bejaht wird, ohne verstanden zu haben, könnte auch mit dem Gesicht des Lehrers zusammenhängen. Ein Student möchte eventuell nicht zugeben, etwas nicht begriffen zu haben, weil dadurch wieder der Lehrer indirekt kritisiert würde.
„Chinesen arbeiten nicht selbstständig“
Ein Problem sah knapp die Hälfte der Deutschen darin, dass die chinesischen Studierenden und Auszubildenden nicht in der Lage seien, unabhängig und selbstständig zu arbeiten. Man könne zwar Tipps geben, diese würden aber kaum befolgt.
Erklärungsversuch: Das kritische Auseinandersetzen mit Lerninhalten im Gruppengespräch während des Unterrichts ist für viele chinesische Lernende noch Neuland. Das gilt auch für die deutsche Form des Selbststudiums. Hier muss Lernen häufig noch einmal neu bzw. anders kennengelernt werden.
Neben kritischen Anmerkungen hatten die Deutschen auch einige Ratschläge für den Umgang mit chinesischen Studierenden parat. Wir haben die Liste mit Erkenntnissen aus der interkulturellen Forschung ergänzt. Herausgekommen sind die folgenden sechs Tipps, die deutschen Lehrenden dabei helfen können, in Lehre und Betreuung mit Chinesen zusammenzuarbeiten.
Sechs Tipps für deutsch-chinesischen Unterricht
1. Das deutsche Lernsystem vorstellen
Kommen Chinesen zum ersten Mal mit westlicher Lehre und Wissenschaft in Kontakt, kann die Anpassung nicht über Nacht erfolgen. Eine geduldige Einführung in das Lernsystem kann daher nicht schaden.
2. Sprachlevel der Chinesen berücksichtigen
Die Schwierigkeiten der deutschen Sprache sollten nicht unterschätzt werden. Wie oben gesehen, bedeutet ein Ja nicht sofort, dass ein Student alles verstanden hat. Am besten versichert man sich zwei, drei Mal, dass auch alle sprachlich folgen können.
3. Hierarchien und chinesische Lehrerrolle bedenken
Der Lehrer ist in China traditionell eine Respektsperson, die hoch in der Hierarchie steht. Zugleich ist er jedoch auch fürsorgende Vertrauensperson, mit der manch privates Problem besprochen werden kann. Diese Gratwanderung ist für viele Deutsche – Lehrende wie auch Vorgesetzte – eine Herausforderung.
4. Chinesische Studierende „in China abholen“
Wenn chinesische Studierende gerade in Deutschland angekommen sind, empfiehlt es sich, sie in Diskussionen mit chinabezogenen Themen „abzuholen“. Da ohnehin ansonsten alles neu für sie ist, hilft es ihnen, wenn zumindest ab und an über die Heimat gesprochen wird.
5. Chinesisches „Gesicht“ und Passivität berücksichtigen
Offene Kritik in der großen Runde ist in China nicht üblich. Damit ginge ein Gesichtsverlust für alle Beteiligten einher. Während man auf offene Kritik verzichten sollte, bietet es sich durchaus an, Lernende im Unterricht direkt aufzufordern, etwas beizutragen. Manche warten nur auf diese Einladung, wollen aber nicht zu aufdringlich erscheinen.
6. Balance zwischen Lernverhalten in Ost und West finden
In der Anfangsphase kann es sinnvoll sein, die Lernmethoden ein wenig an die chinesischen Gewohnheiten anzupassen. Schrittweise können dann auch die deutschen Methoden eingeführt werden. Sicher ist eine Balance zwischen den Lernsystemen in Ost und West besonders zu empfehlen, da fraglos beide Vor- und Nachteile haben.
Welche Erfahrungen haben Sie als Lehrende im Umgang mit chinesischen Studierenden oder Schülern gemacht? Haben Sie weitere Tipps? Wir freuen uns auf Ihren Kommentar.
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Ivan meint
Ich habe in China und in Deutschland sehr ähnliche Erfahrungen gemacht. Es ist ein großes Problem in gemischten Gruppen, weil die eine Seite aus Sicht der anderen immer eine Sonderbehandlung bekommt. Und oft stört die jeweils eine Art die andere Gruppe, weil sie selbst nicht so „tickt“. Trennen kann man Lerngruppen natürlich kaum in der Universität. Es soll dort ja gerade in gemischten Teams zur Zusammenarbeit der Nationen angeregt werden. Danke für den Tipp mit dem „Abholen“. Werde ich zügig ausprobieren.