Von ICC-Redakteur Jendrik Niebuhr
Der E-Commerce-Markt in China wächst rasant – mittendrin die Marktführer bei der Lebensmittelzustellung, Meituan Dianping und Ele.me. Während der Konkurrenzkampf der Platzhirsche vor allem die technikaffinen Konsumenten der urbanen Mittelschicht erfreut, geraten die Arbeitsverhältnisse der Zusteller zunehmend in den Fokus.
Am frühen Mittag in einem hochmodernen Büroviertel am Rande der Millionenstadt Hangzhou: Die schicken Cafés und Restaurants sind kaum besucht, private Sicherheitskräfte auf Segway-artigen Gefährten wachen vor den einzelnen Büroeingängen. Die fein säuberlich arrangierten Hecken und Bäume wiegen sich friedlich unter gelegentlichen Böen. Eine Angestellte der Stadtreinigung schützt sich mit einem Strohhut vor der hochsommerlichen Hitze – das Thermometer misst 38 Grad.
Hermes Respekt und Annehmlichkeiten des Konsumentendaseins in China
Die Idylle wird nur von einigen gelben oder wahlweise blauen Blitzen durchbrochen. Ein Dutzend Boten – beladen mit Essensboxen und Pizzakartons – spurtet kreuz und quer durch das Labyrinth aus Bürotürmen. Ihr Fortbewegungsmittel, den Motorroller, mussten sie einige hundert Meter entfernt stehen lassen, so die örtliche Bestimmung. Davon unberührt, im Bemühen den Geschwindigkeitsverlust auszugleichen, setzen viele der Boten zu einem Vollsprint an, der sicher auch Hermes Respekt abgerungen hätte.
Auch während des rasanten Treppenaufstiegs darf das Smartphone vor der Nase nicht fehlen, schließlich dient es zur Navigation und zum Kontakt mit dem Kunden, dem hungrigen Empfänger. Dieser kann mittels Echtzeitverfolgung den Standort seiner Lieferung prüfen, einer der vielen Annehmlichkeiten des Konsumentendaseins in China. Sollte der Zusteller nur wenige Minuten zu spät sein, erfolgt sogleich eine negative Bewertung. Ein Mittel von dem viele Chinesen verbürgtermaßen deutlich häufiger Gebrauch machen als Verbraucher hierzulande.
Das Geschäft mit der Essenszustellung – Betätigungsfeld der chinesischen Techriesen
Mit einem Volumen von knapp 29 Milliarden US-Dollar ist der chinesische Platform-to-Consumer Delivery Market mehr als dreimal so groß wie der zweitplatzierte US-amerikanische. Weltweit ist der Markt im Vergleich zu Juni 2018 um mehr als 21% gewachsen, das Gros der Nachfrage kommt dabei aus China. Nirgendwo ist der digitale Klick zur Essensbestellung so verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert wie in der Volksrepublik.
Zwischen den Boten und den Kunden stehen die beiden Marktführer im chinesischen Lebensmittelzustellungsgeschäft, Ele.me 饿了么 und Meituan Dianping 美团 – anhand ihrer jeweils neongelben und -blauen Logos kaum mehr wegzudenken aus dem Straßenbild. Die beiden Plattformen haben sich den heimischen Markt, den größten Lebensmittelzustellungsmarkt der Welt, paritätisch aufgeteilt. Meituan Dianping (46,1%/2017), an dem der Tech-Konzern Tencent beteiligt ist, und Ele.me (39,5%/2017), das im April letzten Jahres von der Alibaba Group übernommen wurde, rivalisieren auf dem weiter kräftig wachsenden Markt.
Junge Wanderarbeiter hoffen auf Selbstbestimmung und Flexibilität
Fundament des Geschäftsmodells sind die Zusteller. Allein Marktführer Meituan Dianping beschäftigte 2018 mehr als 2,7 Millionen Essensboten. Nach Firmenangaben sind die meisten jung, männlich und ohne Universitätsabschluss. Rund 77% von ihnen kommen ursprünglich aus ländlichen Gebieten. Es sind Wanderarbeiter, auf der Suche nach Flexibilität und schnellem Geld, meist mit einem oder mehreren Nebenjobs, die bei Meituan Dianping & Co. anheuern. Sie bilden das, was in China brutalerweise als renkou hongli 人口红利, als „Populationsbonus“, dem Heer an verfügbaren und billigen Arbeitskräften, bezeichnet wird.
In dem Bemühen, ebenjene junge Wanderarbeiter zu rekrutieren, wirbt Meituan Dianping, ansässig in Peking, mit Slogans wie ziyou jiedan, duolao, duode 自由接单,多劳多得 (sinngemäß „frei Bestellungen akzeptieren – mehr Bestellungen, mehr Gehalt“) und verspricht mehr als 1.650 Euro monatlich. Doch in der Realität variiert das Gehalt je nach Stadt, Provinz und Beschäftigungsart beträchtlich. Zusteller in Shenzhen, die einen regulären Vertrag mit Meituan unterzeichnet haben, erhalten eine Grundpauschale von 200 Euro pro Monat und umgerechnet 0,76 Euro pro ausgeführter Bestellung. Crowdworker hingegen, die sich nach dem Abschluss einiger Online-Tutorials als Zusteller registrieren, arbeiten vollständig auf Honorarbasis. Alle Zusteller hält ein firmeneignes Punktesystem „auf Trab“. Verspätungen werden mit der Zurückzahlung der Bestellungspauschale geahndet, je weniger Bestellungen ausgeliefert werden, desto unattraktiver zukünftige Bestellungen, beispielsweise, durch die zunehmende Distanz zum Kunden.
Gerade für Crowdworker sind Arbeitsschichten von bis zu 15 Stunden pro Tag keine Seltenheit und selbst dann ist das versprochene Gehalt von 1650 Euro illusorisch. Allenfalls jene, die unter Einsatz ihrer körperlichen Unversehrtheit arbeiten und technische Hilfsmittel anwenden um das System zu überlisten, sogenannte zhongbao dashen 众包大神 („Crowdworker-Götter“), mögen jene Marke erreichen.
Kundenfreundlichkeit „ohne Tempolimit“ – Serviceparadies China
Die Auswirkungen des rigorosen Anreizsystems sind im täglichen Straßenverkehr sichtbar. Chinesische Polizeibehörden reagieren mit Informationskampagnen und runden Tischen mit den Betreibern auf zunehmende Verkehrsverstöße und -unfälle. In der ersten Jahreshälfte 2017 kam es allein in der Millionenmetropole Nanjing zu insgesamt 3.000 Unfälle unter Beteiligung von Zustellern. In 90% der Fälle wurden die Zusteller für die Unfallursache verantwortlich gemacht. Im selben Zeitraum kam es in Shanghai laut Reuters zu 76 schwerwiegenden Verletzungen infolge von Verkehrsunfällen mit Zustellern. Jene offiziellen Zahlen decken sich mit Beschwerden über manch einhändig-fahrenden Zusteller, der unter dauerhafter Betätigung der Hupe, den kompromisslosen Einsatz seiner Ellbogen und unter Missachtung jeglicher Verkehrsvorschriften, sein Ziel erreicht.
Obgleich chinesische Medien vereinzelt kritisch über die Zustände in der jungen Industrie berichten, wird sich der Trend hin zur „Sofortlieferung on demand“ wohl verstärken. Nach der Akquisition von Ele.me verkündete die in Hangzhou ansässige Alibaba Group, dass zukünftig auch seine Marktplatformen Taobao, das chinesische Pendant zu Amazon, und Tmall – zumindest in bestimmten Segmenten – unter 30 Minuten liefern sollen. Ein Angebot von dem die Angestellten und Geschäftsleute im pittoresken Hangzhouer Büroviertel in Zukunft sicher gern Gebrauch machen werden. Das urbane China – ein Service-Paradies mit „Nebeneffekten“.
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