Von Jendrik Niebuhr
Am Wochenende flanieren Touristen über die idyllische Westsee-Promenade und genießen feinsten Longjing-Tee. Werktags geben die Tech-Firmen und Start-ups den Takt vor. Spiegelbildlich zur Entwicklung des Landes zeigt sich in Hangzhou eindrücklich der aufreibende Spagat zwischen Tradition und Moderne. Während Arbeitszeit und Mieten steigen, gewinnt die Hauptstadt der früheren Song-Dynastie national zunehmend an Bedeutung. Das machen nicht zuletzt zahlreiche Großereignisse deutlich. Ein lückenhaftes Portrait meiner Gastheimat.
Sie kleben immer noch an vielen unerdenklichen Stellen: auf dem Stromkasten, auf manch einem Laternenpfahl, auf einigen der zigtausenden Leihrädern in der Stadt – überall prangt unübersehbar „Welcome to Hangzhou“. Auch der freundliche Nudelladenbesitzer um die Ecke vergewissert sich bei jedem Besuch seines mutmaßlich einzigen ausländischen Kunden gern aufs Neue, ob seine Aussprache noch akkurat ist: „Welcome to Hangzhou!“ platzt es jede Woche aufs Neue freudestrahlend aus ihm heraus.
G20-Gipfel und Immobilienpreise in der Universitätsstadt
Die Kampagne im Vorfeld des G20-Gipfels in Hangzhou 2016 hat Spuren bei den Bewohnern hinterlassen. Und die Metropole mit einem Schlag aus dem anonymen Meer der chinesischen Millionenstädte ins Schlaglicht der Weltöffentlichkeit befördert. Etwa 200 Kilometer von Shanghai entfernt gehört die Hauptstadt der Provinz Zhejiang zu den wohlhabendsten des Landes. In einem Land in dem Rankings aller Art besondere Aufmerksamkeit zukommt, wird Hangzhou als „First Tier City“ in Sachen Lebensqualität gelistet. Die berühmteste Universität der Stadt, die Zhejiang Universität, belegt regelmäßig den dritten Rang im Wettstreit der besten Universitäten der Volksrepublik. Den rund 55.000 Studenten, die hier lernen, ist ein anerkennendes Raunen und eine vielversprechende Zukunft sicher. Die steigende Attraktivität hat jedoch seine Schattenseiten. Die Stadt wird zunehmend zu einem Tummelplatz für Immobilienfeilscher. Die Mietpreise steigen nicht erst seit dem G20-Gipfel auf immer neue Höhen. Auch hier belegt Hangzhou einen Spitzenplatz.
Die Miet- und Kaufpreise definieren sich hier recht einfach: Je näher das Objekt an der grünen Lunge der Stadt liegt, desto höher der Preis. Der Westsee ist der Touristenmagnet der Stadt und seit 2011 offizielles UNESCO-Weltkulturerbe. Durchzogen von künstlich angelegten Landstegen liegt der See – kaum mehr als zwei Meter tief – direkt neben dem kommerziellen Zentrum der Stadt. Einschlägig bekannte westliche Luxusmarken, sündhaft teure New York Cheese Cake-Cafés und Showrooms der trendigen Elektroauto-Marken geben sich hier die Klinke in die Hand – ein Traum für wirtschaftlich versierte Stadtplaner.
Geschichte und Natur – Hangzhou als Touristenmagnet
Zwischen den abendlichen Wasserspielen am Ufer des Westsees aus betrachtet, wiegen die wenigen Lichter im anliegenden Nationalpark golden hin und her. Gleicht die Fläche des Westsees ohnehin mehr einem Meer als einem See, wird er nur noch von diesem gigantischen Park übertroffen. Hier eröffnet sich passionierten Wanderern ein gut ausgebautes Netz an Pfaden mit exzellenten Aussichtspunkten auf den Westsee und die Stadt. Wer von dem idyllisch am Rand des Nationalparks gelegenen Yuquan-Campus der Zhejiang Universität startet und der Hügelkette Richtung Südosten folgt muss sich den Weg über steile Rampen ebnen.
Für Entschädigung sorgen buddhistische Tempel im Dickicht üppiger, tropischer Natur sowie ein Abstecher zum weithin bekannten „Drachenbrunnen“. So die wörtliche Übersetzung des kleinen Dorfes Longjing, welches den vermutlich besten Grüntee des Landes anbaut. Umschlungen von endlosen Anbauhängen trifft man hier Verkäufer an, die die Teeblätter – unter ständigem Schaufeln – in großen Pfannen rösten. Ebenfalls im Westsee-Areal befindet sich das Nationale Seiden-Museum, das unter anderem Hangzhous Geschichte als Teil der Seidenstraße beleuchtet.
Hangzhous Traumfabrik – Jack Ma und seine Alibaba Group
Der Stadtteil Binjiang im Südosten der Stadt hingegen besticht durch zahlreiche moderne Bürokomplexe und eine ehrgeizige Start-up-Szene. Hier startete vor 20 Jahren die beispiellose Erfolgsgeschichte von Ma Yun. Geboren in Hangzhou baute der einstige Englisch-Lehrer ein kleines Start-up zu einem der wertvollsten Unternehmen der Welt mit einem Umsatz von knapp 40 Milliarden US-Dollar (2018) auf. Ma Yun ist hierzulande besser bekannt als Jack Ma und sein Unternehmen, die Alibaba Group, zählt zu den größten, attraktivsten und zugleich berüchtigtsten Arbeitgebern der Stadt. Wer bei Alibaba anheuert darf sich über ein überdurchschnittliches Gehalt und umfassende Privilegien freuen und gleichzeitig sein Privatleben auf Eis legen – soweit der Volksmund. „996“, sagen viele Chinesen achselzuckend – von 9 Uhr morgens bis 21 Uhr abends, 6 Tage die Woche.
Ob Mitarbeiter oder Konsument – am Alibaba-Imperium aus Online-Shopping-Plattformen, Finanzdienstleistungen und Produktionsfirmen führt in China und gerade in Hangzhou kein Weg vorbei. Ein Meer von Angestellten bahnt sich jeden Tag gen Mittagszeit ihren Weg zu den umliegenden Kantinen – alle leicht zu identifizieren anhand der blauen Ameise (dem Maskottchen von Ant Financial, dem Betreiber von Alipay) auf der Mitarbeiterkarte. Die blau-weiße Flotte aus abertausenden Hello Bikes – eine weitere Tochterfima der Alibaba Group – flutet tagtäglich die Alleen der Stadt. An jeder Supermarkt-Kasse flackert das leuchtende Blau der Alipay-App von den Handys auf. Hangzhou und Alibaba gehören zusammen, das wird auch Jack Ma nicht müde zu betonen.
Beständiger Wandel in Hangzhou – 2022 kann kommen…
„Im Himmel gibt es das Paradies, auf Erden gibt es Suzhou und Hangzhou“, lautet ein altes chinesisches Sprichwort. Hangzhou hat viele Titel: „Stadt des Tees“, „Seidenstadt“ oder eben schlichtweg „Paradies“ – die Metropole zählt im jedem Fall zu den schönsten des Landes. Wie andere Großstädte in der Volksrepublik auch definiert es sich aber vor allem durch den stetigen Wandel. Gleich fünf neue U-Bahn-Linien werden bereits gebaut oder befinden sich in Planung um das bisher bescheidene U-Bahn-Netz zu ergänzen. Moderne Sportstätten entstehen am Ufer des Qiantang-Flusses und anderen Orten der Stadt. Die 19. Asienspiele im Jahr 2022, der nächste Meilenstein für die Stadtentwicklung, werfen ihren Schatten voraus. Es bleibt abzuwarten, welches Gesicht Hangzhou bis dahin annehmen wird.
Bildrechte: Jendrik Niebuhr
Jack Ma und Alibaba – eine chinesische Internet-Erfolgsgeschichte
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