Ein Kommentar von ICC-Redakteur Patrick Müsker Die Thematik, Gesicht zu wahren, findet in vielen Lebensbereichen des chinesischen Alltags Anwendung. Auch interkulturelle Trainings behandeln das Thema immer wieder, um beispielsweise auf den Umgang mit chinesischen Geschäftspartnern vorzubereiten. Betrachtet ein Außenstehender das gesellschaftliche Geschehen auf längere Zeit, fallen ihm allerdings Phänomene auf, die das chinesische Verständnis von Gesicht und Harmonie infrage stellen.
Was versteht man unter „Gesicht“
Das „Gesicht“ (mianzi 面子) ist im westlichen Verständnis als soziale Stellung zu verstehen. Wie sehen mich die anderen und welchen Grad an Respekt und Ansehen erhalte ich von meinen Mitmenschen? Diese Sicht- und Denkweise spiegelt sich im Muster von Beziehungen zwischen Verwandten und Bekannten, im Geschäftsleben und gesellschaftlicher Ordnung wider. Der Ursprung kann in der konfuzianischen Tradition und Denkweise verortet werden. Die Gesellschaft kann nur dann harmonisch funktionieren, wenn sich jedes Mitglied der Gesellschaft in seiner unmittelbaren Umgebung um Harmonie bemüht. Dabei stellt das Bewahren und Achten des Gesichts eines anderen eine der wichtigsten Bedingungen dar.
Vier Formen mit dem „Gesicht“ umzugehen
Da die Thematik mianzi in verschiedenen Ratgebern besprochen wird, seien die verschiedenen Formen, mit „dem Gesicht“ umzugehen, nur kurz aufgeführt. Das Schlimmste, was einem Chinesen passieren kann, ist es, sein Gesicht zu verlieren. Das einfachste Beispiel für diu mianzi 丢面子 („Gesicht verlieren“) ist das öffentliche Kritisieren eines Arbeitnehmers durch seinen Vorgesetzten. Der Chef maßregelt ihn oder weist auf seine Fehler vor der gesamten Belegschaft hin, anstatt ein privates Gespräch zu suchen oder seine Hilfe anzubieten. Doch auch der Vorgesetzte verliert in diesem Fall sein Gesicht, da er selber nicht darauf achtet, das Gesicht des Gegenübers zu wahren. Ein Gegenteil hierzu stellt das „Geben von Gesicht“ (gei mianzi 给面子) dar. Das Gesicht des anderen soll respektiert und nicht durch eigene Handlungen in unangenehme Situationen gebracht werden. Auf diese Weise erreichen die Menschen nach konfuzianischer Regel ein harmonisches Miteinander. Ein bedachter und rücksichtsvoller Umgang mit seinen Arbeitnehmern oder seinem Gegenüber führt auch zur Bewahrung des eigenen Gesichtes: liu mianzi 留面子. Als letzte Form gilt das Betonen und Hervorheben des Gesichts einer anderen Person jiang mianzi 讲面子. Während der Westen den Individualismus stark betont, herrscht in China traditionell eine stärker gruppenorientierte Denkweise. So werden eigene Leistungen betont, aber nicht durch einen selbst, sondern stellvertretend durch eine andere Person. Durch das Hinweisen auf gute Leistungen oder erreichte Ziele eines anderen wird dem Gelobten Gesicht gegeben.
Gesicht im heutigen China – Eindrücke aus dem Alltag
Im frühen 20. Jahrhundert kehrte China den konfuzianischen Lehren und Denkweisen vielfach den Rücken zu, um sich dem Westen zu öffnen und den Weg der Modernisierung zu beschreiten. Dies machte sich in der Literatur Chinas bemerkbar. Literaten und intellektuelle bedienten sich der Alltagssprache Baihua 白话 anstatt der üblichen Gelehrtensprache, Wenyan 文言, um ihre intellektuelle und ideologische Rebellion gegen die elitäre konfuzianische Gesellschaft durchzuführen. Heute erlebt der Konfuzianismus eine Art Wiedergeburt. Die Regierung betont ihn, um gesellschaftliche Stabilität und Harmonie zu bewahren.
So hat Hu Jintao im Jahr 2005 den Neu-Konfuzianismus xin rujia 新儒家 mit den Worten „Die Harmonie muss gehegt und gepflegt werden“ unterstützt. Politische Aktionen reflektierten konfuzianische Werte und Wahlen zu Beamten der KPCh in der Hunan Provinz fanden auf Grundlage konfuzianischer Werte wie Pietät und Familienleben statt. Auch heute zeigen sich an vielen Ecken chinesischer Städte Hinweise auf gesellschaftliche Harmonie und zivilisiertes Verhalten. So bitten die Behörden um Rücksicht auf Umwelt und Mitmenschen. Beispielsweise begrüßt eine freundliche Frauenstimmte im Schnellzug auf der Strecke Shanghai-Nanjing die Fahrgäste mit den Worten „Welcome on Bord Harmonie“. Doch wie viel Harmonie und Gesicht steckt in der heutigen Gesellschaft Chinas? Beim Einsteigen in die U-Bahn drücken und schieben die Menschen, ohne Rücksicht auf ihr Umfeld zu nehmen. Der Eindruck entsteht, dass sich jeder seiner selbst der nächste ist. Gerade wenn es darum geht, einen Sitzplatz zu erhaschen, laufen ältere Menschen plötzlich schnell wie junge Sportler. Entgegen harmonischer Vorstellungen lieben es die Menschen, sich gegenseitig auf offener Straße anzubrüllen. Nicht selten ergeben sich Situationen, in denen Mitarbeiter eines Supermarktes oder Parkplatzwärter aus Leibes Kräften lauthals angegangen werden. Artet eine solche Situation in einem Streit aus, gewinnt der Außenstehende oft den Eindruck, dass es sich um einen Art Wettstreit handelt. Ein Wettstreit, bei dem die Person mit der lautesten Stimme gewinnt. Ein Schauspiel, dem viele Leute gerne beiwohnen. Doch würde ein geduldiges und zuvorkommendes Verhalten nicht auch Gesicht wahren oder sogar geben? Tatsache ist, dass sich die Wertvorstellungen von mianzi verlagert haben und zum Teil wenig an konfuzianische Sichtweisen erinnern. Genießt ein chinesischer Bürger der heutigen Gesellschaft Ansehen, so heißt es, dass er mianzi habe: you mianzi 有面子. Gemeint ist oft, dass diese Person im Besitz von wirtschaftlichem Kapital ist, ein teures Auto fährt und teure Kleidung trägt. Natürlich gelten im Berufsleben und in sozialen Bereichen des Lebens nach wie vor die gleichen Regeln für das Wahren, Nehmen und Geben von mianzi. Doch scheinen sich die Verständnisebenen von Ansehen im gesellschaftlichen Sinne verlagert zu haben. Im Endeffekt zählen nur noch die Position der Beschäftigung und das damit verbundene Einkommen. Eine eher oberflächliche als idealistische Betrachtungsweise, die sich gerade in chinesischen Metropolen wie Shanghai bemerkbar macht. Hinzu kommt, dass sich immer wieder beobachten lässt, dass Menschen geringfügiger Beschäftigungen recht offen herablassend behandelt werden. Scheinbar haben sie nach heutigem Verständnis kein Ansehen, kein Gesicht verdient. Was für Erfahrungen haben Sie mit Gesichtswahrung in China gemacht? Wir freuen uns über einen Kommentar von Ihnen.
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Sahira meint
Danke fuer diesen informativen Artikel. Ich habe mit interesse gelesen, da ich schon im 4. Jahr in China lebe (Guangzhou). Ich aergere mich immer noch ueber das wenig ruecksichtsvolle Verhalten vieler chinesen in ueberfuellten Metros und auf vollen Strassen. Und ich denke immer mehr, dass dieses Verhalten urspruenglich nicht „dem Chinesen“ entspricht. Es ist viel mehr importiert worden – vielleicht aus dem Glauben heraus, man koenne so auf internationalen Maerkten besser bestehen. Ich hoffe, dass China zurueckfinden kann zu seinen eigenen Wurzeln.
Karol meint
Toller Artikel! Interessant ist auch, dass früher der Edle, der viel Gesicht hatte, sich von Geld – zumindest öffentlich – fernhielt: Der Konfuzianer als moralische Elite der Gesellschaft grenzte sich nämlich genau dadurch von den sozial schlechter gestellten Händlern ab. MfG Karol