Ein Gastbeitrag von Volker Müller. Manchmal sind keine Nachrichten gute Nachrichten. In den letzten Jahren haben internationale Medien nur wenig über Tibet berichtet, unbeachtet von der Weltöffentlichkeit hat sich auf dem Dach der Welt ein kleines Wirtschaftswunder ereignet. Tibet – Buddhismus und Wirtschaft zwischen Tradition und Moderne.
Lange Jahre war Tibet vor der Provinz Guizhou die zweitärmste Region Chinas. Im Jahr 2020 hat sich Tibets pro-Kopf Bruttosozialprodukt (BSP) mit 54,300 Yuan (8550 US$) auf Platz 22 von 31 Provinzen/Regionen vorgearbeitet, beachtliche 50% höher als im alten Industrierevier Heilongjiang im Nordosten Chinas. In Städten wie Lhasa und Nyingchi liegt das pro-Kopf BSP inzwischen höher als in Russland, es ist eine tibetische Mittelschicht entstanden, schöne, selbstbewusste Menschen mit entsprechendem Konsumverhalten.
Tibet – Buddhismus und wirtschaftliche Entwicklung
Es gilt ein oft geäußertes Missverständnis klarzustellen: Buddhismus kennt Asketentum, z.B. Mönche, die sich in abgelegene Höhlen zur Meditation zurückziehen. Aber das sind seltene Ausnahmen. Wie in anderen Religionen auch haben sich tibetischer Buddhismus und wirtschaftliche Entwicklung nie widersprochen, alte Handelswege wie die „Tee- und Pferdestraße“ führten schon ab dem sechsten Jahrhundert durch Tibet, verbanden Yunnan und Sichuan mit Indien und dem Nahen Osten und brachten Reichtum auf das Dach der Welt. Erst die Abschottung und der Verfall Chinas zum Ende der Qing-Dynastie ließen auch Tibet verarmen.
Wie gelang es Tibet aus der Armut zu führen? Die vielleicht unbefriedigende Antwort: es gab und gibt kein Patentrezept, Tibet in sich ist so divers, dass die lokalen Verwaltungen quasi für jede Siedlung und jede Bevölkerungsgruppe angepasste Pläne zur Armutsbekämpfung entwickeln mussten. Lhasa betreibt eine erfolgreiche Industrie-Ansiedlungspolitik und ist inzwischen u.a. Sitz mehrerer pharmazeutischer Unternehmen.
Bis 2019, vor der COVID-Pandemie, wuchs der arbeitsintensive Tourismus jährlich um mehr als 10%, in dem Jahr zählte Tibet 40 Millionen Besucher. Sehr viel schwieriger ist die Entwicklung der Viehwirtschaft im ökologisch fragilen Hochland, die dünne Grasdecke kann keine größeren Herden ernähren. Ausweg sind Umschulungen und Ansiedlungsbeihilfen für die zum Teil noch nomadischen Hirten.
Mobilfunk als ein Treiber der Wirtschaftsentwicklung
Ein entscheidender Treiber der Wirtschaftsentwicklung sei hier exemplarisch erwähnt: die Mobilkommunikation. Noch vor 20 Jahren betrieben viele Tibeter Subsistenz-Wirtschaft, sie produzierten nur für ihren Eigenbedarf. Mit der Verbreitung preisgünstiger Handys und dem Aufbau einer flächendeckenden Infrastruktur von Mobilfunk-Basisstationen bekamen sie Zugang zum Markt, jetzt stehen sie per Handy mit Lieferanten und Käufern in Kontakt, wickeln Zahlungen mobil ab, auch wenn die nächste Bank Tagesreisen entfernt ist. Der Entwicklungsschritt des Festnetz-Telefons wurde in großen Teilen Tibets einfach übersprungen.
Voraussetzung für den Erfolg der Handys: Kommunikation auf Tibetisch. Die tibetische Schrift besteht ähnlich dem Deutschen aus Buchstaben, die Eingabe von Tibetisch über Tastatur oder Handy-Bildschirm ist also deutlich einfacher als Chinesisch. Einzige Herausforderung: Tibetische Zeichen werden nicht einfach von links nach rechts geschrieben, an ein Basis-Zeichen werden unten und oben Elemente hinzugefügt. Vereinfachter Vergleich: eine deutsche Tastatur würde kein “ü” enthalten, sondern auf das “u” müsste man die Punkte nacheinander oben drauf setzen. Klingt kompliziert, aber Smartphones haben im Hintergrund intelligente Software, die das Zusammensetzen der Zeichen automatisiert.
WeChat und traditionelle Kultur in Tibet
Alltags-Kommunikation, Bezahlen von Rechnungen, Bestellen von Taxis und Zugtickets, aus dem täglichen Leben in China ist die universelle Plattform WeChat nicht mehr wegzudenken und das trifft auch für Tibet zu. Auf WeChat lassen sich recht einfach Inhalte erstellen, vergleichbar mit Webseiten im Internet, und die Möglichkeit nutzen auch Tibeter gerne. Angebote von Produkten und Dienstleistungen, tibetische Musik, religiöse Vorträge und Gebete, alles gibt es auf WeChat.
Wird die traditionelle Kultur darunter leiden? Eher ist es so, dass die traditionelle tibetische Kultur ein neues Medium gefunden hat. Hirten haben in der Vergangenheit kaum mal ein Buch gelesen, moderne Medien eröffnen neue Wege, sich mit der eigenen Kultur auseinanderzusetzen. Wie auch sonst in China, sobald die wirtschaftlichen Grundbedürfnisse befriedigt sind, erwacht das Interesse an den kulturellen Wurzeln.
Die Gipfel des Himalaya, exotische Kultur, Flora und Fauna, Tibet ist eins der ganz großen Reiseziele auf der Welt. An dieser Stelle möchten wir die deutsche Übersetzung des Reisebuches „Durchs wilde Tibet“ der Chongqinger Schriftstellerin Hong Chen empfehlen. Für Tibet-Interessierte, die mehr erfahren möchten, als im Reiseführer steht.
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Schlüsselbegriff: Tibet – Buddhismus und Wirtschaft zwischen Tradition und Moderne
Prof. DH meint
Vielen Dank für den Einblick. Im Westen wird zuwenig über Tibet berichtet.
Volker Müller meint
Nicht Tibet selbst, aber ein autonomer tibetischer Landkreis in der Provinz Qinghai nördlich von Tibet: Nangqian (囊谦县), wunderschöne Landschaften, Berge, Grasland und Wälder, tibetische Kultur mit spezifischen lokalen Besonderheiten, gastfreundliche, warmherzige Menschen – im Herbst 2021 hatte ich eine Urlaubsreise nach Nangqian unternommen, andere Touristen habe ich dort kaum getroffen,
Am 23. Januar hat der Landkreis ein eintägiges Musik- und Kulturfestival „Liebe in Nangqian“ 《爱在囊谦》veranstaltet. Das Event wurde live über WeChat übertragen, Teile kann man sich jetzt noch als Videoaufzeichnung ansehen.
Ein Beispiel wie WeChat als Medium genutzt wird, um mit minimalem finanziellen Aufwand den abgelegenen Landkreis bekannt zu machen und Touristen anzuziehen,
Volker Müller meint
Kurz nachdem mein Gastbeitrag am 6. Januar 2021 erschienen ist, haben tibetische Medien einige Daten zu Tibets Entwicklung 2021 veröffentlicht.
1. Nach einem COVID-bedingten Einbruch 2020 hat Tibet 2021 mit 41,5 Millionen Touristen ein Rekordjahr verzeichnet. Tibet ist gewissermassen ein Gewinner der Pandemie: Chinesen, die sonst ins Ausland in Urlaub gefahren wären, haben Reisen in „exotische“ und relativ teure innerchinesische Regionen unternommen.
In diesem Zusamenhang: Tibet mit seinen gut 3,6 Millionen Einwohnern hat bisher EINEN (!) COVID-19 Fall verzeichent, im Februar 2020.
2. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Tibet hat sich 2021 um gut ein Jahr auf 72,19 Jahre erhöht, das entspricht etwa der von Rußland.
3. 2021 ist das Bruttosozialprodukt Tibets um etwa 7% gewachsen, hat erstmals 200 Milliarden Yuan RMB erreicht, etwa so viel wie Estland.
4. 99% aller Hochschulabsolventen in Tibet haben 2021 einen Job gefunden.
5. Die Zahl der 5G Basisstationen (Mobilfunktürme) hat sich knapp verdoppelt auf 6660.
6. Das Fernstraßennetz hat eine Gesamtlänge von 120.000km erreicht, 94,5% aller Gemeinden und 78% aller Dörfer sind jetzt mit dem Auto erreichbar. Man muß in Tibet gewesen sein, um zu ermessen, was es in einer dieser flächenmäßig riesigen Gemeinden bedeutet, wenn sie noch NICHT ans Straßennetz angebunden ist, sie ist auf Subsistenzwirtschaft angewiesen.
7. An 99% der Tage wurde in den tibetische Städten sehr gute Luftqualität gemessen.