Von ICC-Redakteur Malte Steffenhagen
Im ersten Teil dieser Reihe wurde auf Homosexualität in China aus konfuzianischer, daoistischer und buddhistischer Sicht eingegangen. In diesem Beitrag geht es um die Situation für Schwule und Lesben im heutigen Reich der Mitte. Viele Millionen Chinesinnen und Chinesen müssen in einer durchaus modernen Welt noch immer ein Doppelleben führen.
Und das ist so, obwohl Homosexualität seit über 20 Jahren nicht mehr unter Strafe steht. Nachdem China sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts der westlichen Welt öffnete und auch offener für westliche Denkweisen wurde, wuchs auch die Homophobie in der Gesellschaft. Zum Höhepunkt der immer schlimmer werdenden Verfolgung kam es während der Kulturrevolution. Spätestens jetzt stand ein Großteil der Chinesen ablehnend gegenüber Homosexualität.
Schrittweise Modernisierung und Vorbildfunktion Taiwans
In den vergangenen zwei Jahrzehnten standen die Zeichen hingegen tendenziell auf Verbesserung. Der erste Schritt zur Lockerung wurde 1997 vollzogen, als Geschlechtsverkehr unter Männern entkriminalisiert wurde. Unter Strafe stand bis dato skurrilerweise nicht gleichgeschlechtlicher Verkehr im Allgemeinen, sondern zwischen Männern im Speziellen. Der zweite Schritt zu einer Normalisierung erfolgte im April 2001. Seitdem gilt Homosexualität offiziell nicht mehr als Geisteskrankheit.
Auf Taiwan, das die chinesische Regierung als eigene Provinz ansieht, ist inzwischen eine Heirat unter gleichgeschlechtlichen Partnern möglich. In bestimmten Stadtvierteln der Hauptstadt Taipeh sind Händchen haltende und sich küssende gleichgeschlechtliche Paare bereits immer häufiger zu sehen. Städte wie Peking oder Shanghai sind hingegen noch nicht so weit. Die Entwicklung Taiwans spendete aber zumindest einen Funken Hoffnung für viele Homosexuelle auf dem Festland, dass sich etwas verändern kann. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Taiwan-Entwicklungen in den Medien des Festlandes kaum behandelt wurden. Lediglich in Online-Netzwerken für „Gleichgesinnte“ (tongzhi 同志, steht für Homosexuelle) wurde das Thema lebhaft diskutiert.
Neues Mediengesetz gegen Homosexualität
Bei all dem Fortschritt seit der Jahrtausendwende kam es in 2017 jedoch zu einem unerwarteten Rückschritt. Überraschend wurde ein neues Mediengesetz zur „abnormalen Sexualität“ verabschiedet, mit dem das Thema Homosexualität gänzlich aus der öffentlichen Wahrnehmung genommen werden soll. Allein die Erwähnung von Themen, die mit homosexuellem Lebensstil in Verbindung stehen, ist nun in jeglicher Hinsicht verboten. Keine Filme zu LSBT-Themen dürfen mehr ausgestrahlt werden, auch bekannte Internetserien sind davon betroffen. Das Urteil lautet: „unangemessen“. So wurde kurzerhand wenige Tage nach der Veröffentlichung die Web-Serie Addiction (Shangyin 上瘾) von sämtlichen chinesischen Streaming-Portalen gelöscht.
Dabei handelt es sich in China um eine der erfolgreichsten Web-Serien aller Zeiten, die sich um die Liebesbeziehung zweier jünger Männer dreht. Die Ausstrahlung der ersten Staffel wurde kurz vor Ende abgebrochen, die weitere Arbeit an einer zweiten Staffel der Serie wurde nicht genehmigt und den Schauspielern wurde das Mitwirken am gesamten Projekt verboten. Auch die beliebte Tänzerin und Choreographin Jin Xing 金星, die sich 1991 als erster Mensch in der Volksrepublik einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog, ist betroffen. Ihre Talkshow „The Jin Xing Show – Jin Xing xiu 金星秀“, eine Mischung aus Late Night Talk, Stand-up Comedy und gesellschaftlichen Diskussionen, wurde ebenso kurzerhand abgesetzt. Die offizielle Begründung bleibt bis heute im Dunkeln. Ob Magazine, Radio, Film, Fernsehen oder Internet: schwule und lesbische Inhalte dürfen weder gezeigt noch angesprochen werden. Diese Bevölkerungsgruppe wird somit komplett ignoriert und wieder verstärkt kriminalisiert.
Nachteile für Homosexuelle im alltäglichen Leben
Obwohl gesetzlich nicht mehr verfolgt, sind Homosexuelle dennoch nicht gesetzlich geschützt. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist eine sehr häufige Folge, wenn die sexuelle Orientierung in der Firma auffliegt. Die Sexualität kann sogar offiziell als Kündigungsgrund angegeben werden, es muss nicht einmal ein anderer Grund als Vorwand herhalten. Auch von Mobbing wird immer berichtet. Ebenso kann es oft zu großen Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche kommen, wenn der Vermieter davon erfährt, was man in seiner Freizeit macht. In großen Städten wie Peking oder Shanghai, die im Vergleich zu ländlicheren Regionen ungleich toleranter sind, gibt es zwar zahlreiche Bars und Clubs, in denen junge Schwule und Lesben sich relativ frei und ungestört bewegen können. Doch in den letzten Jahren haben Beobachtungen und Kontrollen wohl wieder deutlich zugenommen.
Auch die Streichung von der Liste der Geisteskrankheiten bleibt vor allem eine theoretische Änderung. Tatsächlich wird weiterhin an Schulen und Universitäten gelehrt, dass es sich bei Homosexualität um eine heilbare Krankheit handele. Die lesbische Aktivistin Qiu Bai 秋白 ist bereits in mehreren Instanzen vor Gericht gezogen, jedoch ohne wirkliche Aussicht auf Erfolg. Ihre Universität reagierte daraufhin mit einer Benachrichtigung ihrer Eltern mit der dringenden Empfehlung, ihre Tochter ins Krankenhaus zu bringen und sie behandeln zu lassen.
Behandlungsmöglichkeiten und Selbstverleugnung
Es gibt verschiedene „Heilungsmethoden“, die die als Perversion bezeichnete Orientierung austreiben sollen. Frauen wird beispielsweise empfohlen, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Dies sei die beste Behandlungsmethode, durch die Schwangerschaft würden sie geheilt. Schwule Männer werden von ihrer Familie nicht selten in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Dort müssen sie unterschiedliche „Therapien“ über sich ergehen lassen, die sich bianzhi 变直 nennen, was so viel bedeutet wie „wieder gerade richten“. (Möglicherweise ist diese Wortschöpfung auch an den englischen Begriff „straight“ geknüpft, der wörtlich „gerade“ bedeutet, im übertragenen Sinne aber auch für „heterosexuell“ steht.) Wissenschaftlich ist jedoch kein Beleg für die Wirksamkeit dieser Behandlungsmethode zu finden. Was die Betroffenen vor allem davon behalten, ist eine große Angst und eine daraus resultierende Unterdrückung jeglicher Gefühle für das gleiche Geschlecht.
Viele Jugendliche befinden sich in einem großen Dilemma. Zunächst einmal wissen sie womöglich gar nicht, warum bei ihnen etwas anders ist als bei den Klassenkameraden. Wenn ihnen nun die Schulbücher mit dem Thema Sexualkunde in die Hände fallen, ist relativ schnell klar: Mit mir stimmt etwas nicht! Ich bin krank! Es folgt große Unsicherheit, die aus mangelnden Informationsmöglichkeiten resultiert und eine permanente Angst vor möglicher Diskriminierung in der eigenen Familie, sollte man sich öffnen.
Folgen eines Outings in China
Die Folgen eines Outings (chin. chugui 出柜, wörtlich „aus dem Schrank kommen“ von Englisch „come out of the closet“) können vielfältig und oft sehr negativ sein. Es wird immer wieder von Selbstmorden berichtet, auch zu häuslicher Gewalt soll es häufiger kommen. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder zu einer Therapie in einer psychiatrischen Klinik. Der Druck der eigenen Familie ist in China sehr groß, da alle Hoffnungen der Eltern und Großeltern auf den Schultern einer ganzen Generation von Einzelkindern lastet. Das Familiengefüge ist durch die Hoffnung geprägt, dass der Sohn oder die Tochter eine vielversprechende Zukunft haben wird. Viele homosexuelle Jugendliche ziehen es daher vor, ihrer Familie nichts zu sagen. Sie entschließen sich für ein Doppelleben (shuangmian rensheng 双面人生).
Vom Ideal, ein nützlicher Mensch zu werden
Nach einer Studie der Vereinten Nationen mit 18.000 Befragten wollen 95 Prozent der Schwulen und Lesben in China sich nicht outen. Woran liegt es, dass die Zahl immer noch so hoch ist? Kleinen Kindern wird in der Erziehung vermittelt, dass sie eines Tages ein „nützlicher Mensch“ sein sollen – zuo yi ge youyongde ren 做一个有用的人. Dies beinhaltet einerseits fleißiges Lernen, um eines Tages einen guten Beruf zu erlangen und vor allem Geld für die Familie zu verdienen. Dies bedeutet aber auch, dem gesellschaftlichen Ziel der Konformität zu entsprechen und eine Familie mit Kind zu haben. In China gibt es noch immer keine umfassende Altersvorsorge, und so sind die Kinder und Enkelkinder oft die einzige Altersvorsorge, die man hat. Wer keine Familie gründet und für den Fortbestand der Familie sorgt, wird nicht selten als „nutzlos“ beschrieben. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zum bereits angesprochenen konfuzianischen Menschenbild. Söhne und Töchter sollen für Nachkommen sorgen, die später für ihre Eltern und Großeltern nicht nur im Diesseits, sondern auch im Jenseits, aufkommen.
Natürlich wird nichtsdestotrotz in China Homosexualität gelebt, dies sollte jedoch nicht zu auffällig geschehen. Didiao 低调 zu sein, das ist hier das oberste Gebot – leise und unauffällig. So lautet auch das ungeschriebene Gesetz für die Pekinger und Shanghaier Schwulen- und Lesbenszene. Sich treffen und feiern, trinken, Spaß haben ist geduldet – so lange es nicht auffällt. Größere Aktionen hingegen sind deutlich weniger erwünscht und werden fast immer aufgelöst oder bereits im Vorhinein verhindert. Was nicht auffällt, kann auch niemanden stören. Was es in der Öffentlichkeit nicht gibt, das muss auch nicht thematisiert werden. So passt man sich dann im Laufe der Zeit einander an, aber ein tolerantes Miteinander sieht anders aus.
Foto 1: flickr / kris krüg / Rechte
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