Von ICC-Redakteur Malte Steffenhagen
Ganz China erholt sich dieser Tage erst einmal vom zwei Wochen anhaltenden Olympia-Fieber. Seit den olympischen Spielen im eigenen Land in 2008 sind derartige Sportereignisse wieder besonders im Fokus. China nutzt die weltweite Aufmerksamkeit um zu zeigen, zu welchen herausragenden Leistungen das chinesische Volk in der Lage ist. Deutsche Medien berichteten entsprechend wieder vermehrt über „herangezüchtete“ Athleten, die schon als Kinder auf Sportinternate und in Trainingslager geschickt werden, um dort zu den besten Sportlern der Welt ausgebildet zu werden. Doch irgendetwas an der chinesischen Einstellung zu den olympischen Wettkämpfen schien dieses Mal anders zu sein.
Die Schwimmerin Fu Yuanhui 傅园 慧 ist in den chinesischen Medien zu einer der beliebtesten Figuren geworden, und das durch ein Interview im chinesischen Staatsfernsehen, bei dem sie sich sehr authentisch und ungehemmt über ihr Ergebnis freute: Sie hatte den dritten Platz belegt. Der 20-jährige Sportstar aus dem südchinesischen Hangzhou hatte zwar den chinesischen Rekord in 100 Metern Rückenschwimmen gebrochen, dennoch hatte sie bei Olympia „nur“ eine Bronzemedaille erzielt. Und trotzdem wurde sie in den sozialen Medien gefeiert und erreichte bei einem Livestream-Interview zwei Tage später über 10 Millionen Zuschauer.
Weniger Medaillen, aber mehr Sympathiepunkte in Medien
China hat dieses Jahr beim Medaillenspiegel wesentlich schlechter abgeschnitten als in den Vorjahren. Eigentlich waren 38 Goldmedaillen angekündigt worden, genauso viele wie auch bei den letzten Spielen in London 2012 erreicht worden waren. Das Nationale Sportbüro 国家体育总局 war über die ausgebliebenen Erfolge nicht erfreut und entschuldigte sich sogar. Schließlich sei es ausschließlich der erste Platz, auf den es bei Wettkämpfen ankomme. Vom olympischen Gedanken „Dabei sein ist alles“ war hier nichts zu hören. Doch die chinesische Öffentlichkeit hatte ein ganz anderes Bild der diesjährigen olympischen Sommerspiele.
Die sonst sehr auf Siege und Goldmedaillen fokussierten chinesischen Medien verfolgten bei den olympischen Spielen in Rio de Janeiro erstmals andere Themen als bisher. Es gab plötzlich ein spürbar größeres Interesse an den Geschichten jenseits der Wettkampf-Arenen. Gefühle und menschliche Aspekte waren jetzt spannend. Die Linie der chinesischen Medien änderte sich im Laufe der zwei Wochen deutlich. Bisher hatte sich die chinesische Sportberichterstattung an den Maßgaben des Nationalen Sportbüros orientiert. In sozialen Medien wie Sina Weibo fielen die Reaktionen der User anders aus als die der offiziellen Staatsmedien. Großen Zuspruch bekamen beispielsweise auch die beiden Turmspringer Qin Kai 秦凯 und He Zi 何姿 durch einen Heiratsantrag während der Siegerehrung. Später sprachen die beiden in einem Interview ungewöhnlich offen und ehrlich über ihre Liebesgeschichte und ihre Gefühle während des Antrages.
Gesellschaftlicher Tabubruch – soziale Medien begeistert
Solche Geschichten kommen heutzutage in den sozialen Medien gut an. Viele chinesische Internet-User freuen sich über das natürliche und sympathische Auftreten ihrer Landsleute. In dieser neuen Stimmung tritt die Schwimmerin Fu Yuanhui ein zweites Mal in das Zentrum des allgemeinen Interesses, diesmal mit einem unerwarteten und bahnbrechenden Tabubruch. Die größte Aufmerksamkeit ihrer bisherigen Karriere bekommt sie auch diesmal nicht durch eine Medaille. Im Gegenteil – sie belegt bei der Schwimmstaffel den vierten Platz und landet somit nicht einmal auf dem Siegertreppchen. In einem Interview im Anschluss an diesen Wettbewerb gibt sie ganz unverblümt zu verstehen, dass sie am Vortag ihre Periode bekommen habe und sich etwas schwach gefühlt habe. Diese Aussage ist für ein Land, in dem Menstruation immer noch ein Tabuthema ist und öffentlich wenig Aufklärung über Themen der Sexualität stattfindet. Anstatt dieses Thema wie bisher mit Schweigen und Scham zu behandeln, bekam Fu großen Beifall im Netz. Weibliche User waren dankbar, dass dieses Thema endlich offen angesprochen und diskutiert wird.
China liegt beim abschließenden Medaillenspiegel auf dem guten dritten Platz und steht damit zwei Plätze vor den deutschen. Dennoch sind es gar nicht die tatsächlichen Siege, die von Olympia in Rio 2016 im Gedächtnis bleiben werden. Vielmehr werden sympathische und individuell auftretende junge Frauen und Männer das Bild prägen. Sieg oder Niederlage traten in den Hintergrund. Das ist neu, das ist erfrischend, das ist menschlich!
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Bild: Screenshot von WeChat
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