Von ICC-Redakteur Christoph Yew
Wer zum ersten Mal nach China kommt oder mit Chinesen beruflich und privat zu tun hat, dem wird eines relativ schnell klar. Im täglichen Miteinander gibt es große kulturelle Unterschiede zwischen Ost und West. Ein Grund dafür ist im Bildungssystem zu finden, das in China einige Besonderheiten aufweist.
Bildungsweg mit Gaokao als höchstem Ziel
In China wird ein großer Wert auf gute Ergebnisse in anerkannten Bildungsinstitutionen gelegt. Der Begriff Bildung wird hier vermieden, da er nicht den Kern der Sache trifft. Das lokale System, gepaart mit der Erwartungshaltung der Eltern haben dabei zur Folge, dass die Sprösslinge vom Kindergarten bis zur Universität von morgens bis abends mit Lernen beschäftigt sind. Während der gesamten Jugend wird man auf den Tag der Gaokao 高考 (Universitätsaufnahmeprüfung) vorbereitet. Nachhilfe, Teilnahme an Wettbewerben, Klavierstunden, Unterricht in Volkstänzen etc. runden das Programm ab. Diese Extra-Aktivitäten dienen zu einem großen Teil auch dazu, später den entscheidenden Vorteil zu haben um auf die Wunsch-Uni zu gelangen, da das Einheimsen von Preisen und ein gutes Abschneiden in außerschulischen Prüfungen eventuell positiv auf das Gaokao-Ergebnis angerechnet werden kann. So ist es für künstlerische Studiengänge zwingend eine entsprechende Eignungsprüfung zu absolvieren. Wer diese mit Bravour besteht, kann eine geringere Punktzahl in den Gaokao kompensieren.
Lernen ist oberstes Gebot. Andere Freizeitaktivitäten, wie das Spielen mit Freunden oder gar das Ausgehen mit Freund und Freundin werden dagegen eher ungern gesehen. Um die Bedeutung der Gaokao in der Gesellschaft zu erkennen, muss man sich am betreffenden Tag nur in den Schulvierteln umzusehen. Ganze Straßenzüge werden für den Verkehr gesperrt, Hupen und Baulärm sind untersagt, Eltern reisen aus der Ferne an, um in der Nähe der Schule ein Hotel zu mieten, damit das Kind einen kurzen Weg am Testtag hat. Sogar Wahrsager werden konsultiert und Tempel besucht, um das Ergebnis positiv zu beeinflussen. Was die berufliche Zukunft eines gebildeten Chinesen angeht, gibt es wohl keinen wichtigeren Tag im Leben.
Bildungssystems und Sozialisation in China
Es kann zusammengefasst werden, dass in China unzählige Einzelkinder die meiste Zeit ihrer Jugend mit fremdbestimmtem Lernen verbringen und wenig Zeit für Freunde oder Freizeitaktivitäten übrig haben. Auch erscheinen die Möglichkeiten, über die eigene Identität und Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren, in diesem Vollzeitprogramm eher gering zu sein. Eine Folge ist, dass chinesische Jugendliche mit einer komplett neuen Situation konfrontiert werden, wenn Sie aus der elterlichen Wohnung ausziehen, um zur Schule und zur Uni zu gehen oder das Arbeitsleben zu beginnen. Zum ersten Mal wird verlangt, das eigene Leben zu leben und eigene Entscheidungen zu treffen. Elterlicher Einfluss ist meist nur noch – und dann sehr deutlich – zu spüren, wenn es um die Wahl des zukünftigen Ehepartners oder sonstige Aspekte der Familienplanung geht.
Frisch entlassen aus Hotel Mama, sind einige nun voller Tatendrang, die neue Freiheit auszukosten. Neue Hobbies werden ausprobiert, es wird gereist und Zwänge aus dem Schulleben, wie z.B. Überstunden für Englisch oder der Geigenunterricht, werden schleunigst abgelegt. Allerdings tritt dieser Enthusiasmus nicht bei allen ein. Wenn der Umgang mit anderen Menschen in der Jugend nur sekundär gepflegt wurde und sich man auf eine Konkurrenzbeziehung im Sinne von „Du musst besser sein als deine Mitschüler“ beschränkt hat, kann es passieren, dass man mit der neuen Situation überfordert ist. Insbesondere ist dies beim Umgang mit Ausländern zu beobachten, die häufig eine völlig andere Sozialisation durchlaufen haben.
Soziale Besonderheiten im Alltagsleben
Mit diesem Hintergrundwissen lassen sich einige Verhaltensweisen von Chinesen etwas besser verstehen. Auf der Basis eigener Beobachtungen als aktiver oder passiver Teilnehmer habe ich eine Liste mit sozialen Phänomenen zusammengestellt, die gerade für Ausländer in China seltsam erscheinen können – auch wenn man bereits länger im Land lebt.
- Man wird in einem Restaurant angesprochen und es wird einem große Neugier entgegengebracht. Nachdem die üblichen W-Fragen (Wer? Warum? Woher?) beantwortet sind, endet das Gespräch abrupt. Der Fragende wendet sich ohne Erklärung anderen Sachen zu.
- Man verabredet sich mit einer chinesischen Freundin zum Essen. Die Freundin ist während des Essens die meiste Zeit mit ihrem Smartphone beschäftigt. Es werden Fotos vom Essen geteilt, Freunde werden kontaktiert, Videoclips angesehen etc.
- Kommilitonen, mit denen man sonst selten Kontakt hat, laden einen ohne ersichtlichen Grund zum Essen ein. Während des Essens wird eine Seminararbeit erwähnt und es wird darum gebeten, diese doch Korrektur zu lesen.
- Bei einem Blick in chinesische Bars und Clubs fällt schnell auf, dass die Tische oft mit sehr exklusivem Alkohol zugestellt sind. Die Tanzfläche ist leer und die Gäste sind mit Trinkspielen und ihren Smartphones beschäftigt.
- Auf die Frage nach Hobbies wird mit „Essen und Schlafen“ geantwortet.
- Die Frage an einen Kollegen, ob dieser nicht Lust auf einen Kaffee hat, wird nicht verstanden als der Wunsch nach einem informellen, persönlichen Gespräch.
Sollten Sie sich in ähnlichen Situationen wiederfinden, in denen Sie von bestimmten Verhaltensweisen überrascht sind, handelt es sich vermutlich um soziale Diskrepanzen, die auf einer unterschiedlichen Sozialisation beruhen. In den wenigsten Fällen ist das Verhalten als Unhöflichkeit oder Ablehnung gemeint. Genau genommen, kann die Beibehaltung des typischen Chinesisch-Seins sogar ein Kompliment an beteiligte Ausländer sein. Man wurde offensichtlich in die In-Group aufgenommen und erfährt keine Sonderbehandlung mehr.
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