Entgegen der meisten Prognosen, die noch zu Beginn des Jahres 2015 vor dem ersten Kurssturz getroffen wurden, befindet sich China scheinbar auf dem Weg in eine Krise und die Welt schaut gebannt auf das Reich der Mitte. Ein Kommentar von ICC-Redakteur Jörn Binczyk.
Wird die chinesische Regierung Mittel und Wege finden, die Abwärtsspirale aufzuhalten? Diese Frage stellen sich zurzeit Ökonomen auf der ganzen Welt. In ihrem Asian Development Outlook 2015 senkt nun auch die Asian Development Bank ihre ursprüngliche Prognose für das Wachstum in China und mit Ausnahme Vietnams auch für den restlichen südostasiatischen Raum.
Doch wie ist es wirklich um die chinesische Wirtschaft bestellt? Börsencrashs, Abwertung des Renminbi, gesunkene Wachstumszahlen und nun wurde auch noch der Caixin/Markit-Einkaufsmanagerindex (PMI = Purchasing Managers Index) abermals um 0,3 Punkte auf 47 Punkte weiter nach unten korrigiert. Kommt Chinas Wirtschaftswunder, welches hunderte Millionen Menschen aus der Armut gehoben hat, nun zu einem jähen Ende?
Es gibt glücklicherweise keinen Grund zu dieser Annahme. Analysiert man die Talfahrt des Shanghai Composite Index stellt man schnell fest, dass sich das chinesische Wirtschaftswachstum bereits lange vor Beginn des Kurseinbruchs verlangsamt hatte. Das liegt in erster Linie daran, dass sich die Grundlagen für Chinas Wachstum verändern. Chinas bisheriges Turbo-Wachstumsmodell dessen Standbeine Exportorientierung und hohe Investitionen waren, stößt zunehmend an seine Grenzen. Die Werkbank der Welt hat durch die massiven Investitionen der vergangenen Dekaden weitaus mehr Produktionsmöglichkeiten angehäuft als eben diese Welt derzeit an Nachfrage liefert. Die sinkende Nachfrage aus den Industrieländern, der demographische Wandel sowie der Wandel von Export- und Investitionsorientierung hin zu Wirtschaftswachstum welches durch Binnenkonsum und den Dienstleistungssektor getragen wird, sind drei bedeutende Faktoren für die aktuell schlechten Bewertungen der Wirtschaftslage. Darüber hinaus erzeugt auch der Erfolg des bisherigen Kurses weitere hausgemachte Probleme. So sorgen beispielsweise gestiegene Löhne für langsameres Wachstum im auf Niedriglöhne angewiesenen produzierenden Gewerbe und machen wiederum andere Länder als Standorte attraktiver.
Doch was bedeutet in diesem Kontext die Abwertung des PMI? Der Einkaufsmanagerindex gilt als Frühindikator zur Konjunkturlage. Solange der Wert über 50 Punkten liegt, gilt die Stimmung in der Wirtschaft als positiv. Werte darunter gelten als Vorzeichen für einen möglichen wirtschaftlichen Abschwung. Die vorläufige Abwertung auf 47 Punkte muss aber im Kontext der generellen Transformation der Wirtschaft des Landes gesehen werden. Der Weg zur Industrie 4.0 ist eben steinig und schwer. Da scheint auch die siebte Abwertung in Folge nicht mehr ins Gewicht zu fallen. Ein Indiz für eine schwere Krise oder gar die vielfach befürchtete „harte Landung“ kann man hieraus noch nicht ableiten.
Die scheinbare Zerbrechlichkeit des chinesischen Aktienmarktes kann ebenfalls kaum als ernsthafter Indikator für die gegenwärtige Wirtschaftslage gesehen werden. Diese sind vielmehr auf die zugrundeliegenden besonderen Eigenheiten der chinesischen Börse zurückzuführen. Zunächst muss man sich die Firmen ansehen, deren Papiere gehandelt werden. Über zwei Drittel der gehandelten Firmen sind staatliche Firmen, die für weniger als ein Drittel des chinesischen BIP verantwortlich sind. Die Zahl der Angestellten liegt noch deutlich niedriger. Sie sind somit nicht repräsentativ für die Mehrheit der Firmen im Land. Wodurch entstehen die starken Kursschwankungen und –einbrüche? Während in den Industrienationen die Aktienmärkte durch institutionelle Investoren wie Banken, Versicherungsgesellschaften und Fonds dominiert und stabilisiert werden, die oftmals auf Langzeiterträge spekulieren, sind an Chinas Aktienmärkten Privatanleger mit dem Ziel kurzfristiger Gewinne die vorherrschende Klientel. Privatanleger neigen darüber hinaus eher zu spontanen und impulsiven Käufen und Verkäufen, die den Aktienkurs anfällig und instabil machen. Nur zu oft sah man in den Vergangenen Wochen die Fotos der verzweifelten älteren Männer vor den Anzeigen der Börsenkurse. Der Grund für die hohe Zahl an Privatanlegern liegt vor allem an den wenigen Möglichkeiten der Bevölkerung ihre Ersparnisse anzulegen und dadurch ihr Geld für sich arbeiten zu lassen. Die Zuwachsraten bei normalen Geldanlagen in Zeiten der Niedrigzinspolitik sind de facto nicht vorhanden gewesen und darüber hinaus gesetzlich gedeckelt worden. Darüber hinaus war der enorme Höhenflug der Börsen in China durch geschickte Reform- und Geldpolitik und massiver Intervention durch die politische Führung und mediale Mobilmachung gewissermaßen forciert worden. Im Jahr 2014 betrug der Zuwachs des Shanghai Composite Index riesige 53% und war dadurch auf Platz eins im Rendite-Ranking der weltweiten Börsenplätze aufgestiegen. Das Finanzvolumen chinesischer Wertpapiere ließ sogar nach drei Jahren wieder die Börse in Japan hinter sich. Somit sind der neuerliche Einbruch und der enorme Kapitalabfluss eher als eine Art der Selbstregulierung der Börse anzusehen. Der Kurs steht jetzt wieder auf einem ähnlichen Stand wie 2010 nachdem die Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise erfolgreich überstanden waren.
Ob China sein enormes Wachstum weiter vorantreiben kann hängt also in erster Linie nicht davon ab, wie sich der Aktienmarkt entwickelt, sondern vielmehr davon, ob die chinesische Führung es schafft, Reformen einzubringen, die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt ermöglichen, die den freien Kapitalfluss im Finanzsektor erweitern und die die Produktivität staatlicher Firmen erhöht. Solange China sich weiterhin durch kluge Finanzpolitik auszeichnet und weiter Marktreformen durchführt, wird es noch lange eine treibende Kraft der Weltwirtschaft bleiben.
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