Von Imke Kahrmann
Egal, ob Stargeiger David Garrett oder der chinesische Klaviervirtuose Lang Lang, beim Anblick dieser Persönlichkeiten ist sich die Welt sicher: Musiker verfügen über außerordentliche Fähigkeiten. Man spricht von „Wunderkindern“, „Talenten“ oder „Begabung“ und davon, dass Musik Kinder schlauer macht. Doch inwieweit ist das Musizieren als Gehirntraining wirklich relevant?
Könnte das beliebte Hobby des Musizierens zum Geheimrezept für die Verbesserung von Lernergebnissen führen? Neue Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie könnten Antworten auf diese Fragen geben. So haben chinesische Längsstudien ergeben, dass es zu einem günstigen Effekt des verbalen Gedächtnisses kommt, wenn Probanden, besonders Kinder, aber auch Erwachsene allgemeines Musiktraining aufnehmen (Ho et al., 2003).
Bessere Gedächtnisleistungen durch Musikunterricht?
Eine Gruppe von Psychologen der Chinese University oft Hong Kong sorgte schon 1998 für aufsehenerregende Ergebnisse mit einer Studie, die 2003 erweitert wurde. Der Vergleich von Gedächtnisleistungen zwischen der Vergleichsgruppe mit und ohne Musikunterricht zeigte, dass die erstere weitaus bessere verbale Gedächtnisleistungen aufwiesen als die Probanden der zweiten Vergleichsgruppe. Im Durchschnitt konnten sich die TeilnehmerInnen mit regelmäßigem Musiktraining an 20 Prozent mehr Wörter erinnern als die Versuchspersonen ohne musikalischen Unterricht. Chinesische Kinder und Jugendliche, die innerhalb eines Jahres Musikunterricht erhalten hatten, verbesserten ihre verbalen Gedächtnisleistungen somit erheblich. Auffällig war jedoch, dass dieses Ergebnis lediglich auf Probanden zutraf, die Chinesisch als Muttersprache hatten. Bei Kindern aus Nordamerika und Europa ließen sich diese Ergebnisse nicht feststellen. Sind die chinesischen Schülerinnen und Schüler intelligenter oder talentierter als die westlichen? Wieso hat ein musikalisches Training einen größeren Effekt auf das verbale Gedächtnis der chinesischen Probanden, als auf das der Westler?
Die Lösung ist vermutlich in den jeweiligen Sprachsystemen zu finden. Denn Chinesisch (Mandarin) ist eine tonale Sprache, die stark an Töne und Prosodie (Sprachmelodie) gebunden ist. Jeder, der einmal versucht hat, Chinesisch zu lernen, weiß, wie irreführend die falsche Betonung eines Wortes sein kann. Hirnforschungen haben gezeigt, dass die auditorische Verarbeitungsgrundlage viele Ähnlichkeiten zwischen der chinesischen Sprache und Musik aufweist (z.B. Jäncke 2009). Somit hat ein Musiktraining bei chinesisch sprechenden TeilnehmerInnen einen größeren Effekt auf das verbale Gedächtnis als bei Probanden europäischer und nordamerikanischer Sprachen. Erstaunlich war jedoch, dass die chinesischen Probanden im Bereich des visuellen Gedächtnisses schlechter abschnitten als eine kanadische Vergleichsgruppe.
Gedächtnisunterschiede durch unterschiedliche Sprachsysteme
Auch hier scheinen die Gründe in der chinesischen Sprache zu liegen. Kanadische und europäische SchülerInnen lernen musikalische Notation als Ideogramme, d.h. als Zeichen, deren Bedeutung nicht (ausschließlich) aus der Form abgeleitet werden kann. Jede Note und jedes musikalische Zeichen muss auswendig gelernt werden. In diesem Fall kommt den Westlern ihr Sprachsystem zugute, das ebenfalls auf Ideogrammen beruht. Das Lernen von Musik und Sprachzeichen läuft oftmals über Ideogramme ab, wohingegen die chinesische Sprache von zahlreichen Piktogrammen geprägt ist. Diese Zeichen haben einen direkteren Bezug zu der Bedeutung und lassen kaum Raum für Assoziationen. Der Unterschied beider Vergleichsgruppen in Hinblick auf die Verbesserung des visuellen Gedächtnisses aufgrund von musikalischer Förderung liegt dementsprechend mit großer Wahrscheinlichkeit in den jeweiligen Sprachsystemen. Musikalisches Training führt demzufolge nachweislich zu einer Verbesserung des Gedächtnisses, die Gehirne werden in beiden Fällen (bei chinesischen wie auch bei europäischen Probanden) stimuliert. Musizieren kann als Gehirntraining, als Hobby mit angenehmem Nebeneffekt gelten.
Wiederholung macht den Meister in Ost und West
Entscheidend und wichtig für die Verbesserung unserer Gehirnfähigkeit, so sind sich Hirnforscher einig, ist allerdings die Expertise, das ständige Wiederholen der Fähigkeit. Denn das intensive Üben und Wiederholen von Lerneinheiten bringen eine makroskopischen Veränderungen im Hirnbereich. Eine anatomische Veränderung, häufig eine Zunahme der grauen Nervenzellen oder eine Vermehrung der Dendritten oder der Synapsen, hängen von der Dauer und der Intensität des jeweiligen Trainings ab. Es ist also weniger das „Talent“ oder die „Begabung“, die das „Wunderkind“ erstrahlen lassen, als vielmehr das jahrelange Üben der musikalischen technischen Fertigkeiten. Am Ende stimmt für das Erlernen in Ost und West also doch das altbekannte Sprichwort: Übung macht den Meister oder wie es in China heißt shú néng shēng qiǎo 熟能生巧 (wörtl. etwa „Geschick entsteht durch geschulte Fähigkeiten“).
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Foto: http://www.duo-klang.de/
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