Von ICC-Redakteur Patrick Müsker
Die chinesische Gesellschaft hat sich seit dem Beginn der Reform und Öffnungspolitik vor über 35 Jahren zunehmend verändert. Nach Xu Youyu 徐友渔 , Repräsentant der chinesischen Liberalen, sind eine zunehmende Vielfalt und Widersprüche des gesellschaftlichen Denkens zwei Ergebnisse des Wandels. Doch wer genau führt die Debatten und welche Meinungen zur künftigen Entwicklung des Landes vertreten sie?
Die Frage nach der richtigen Reform in China
Trotz verschiedener Hindernisse wurde an der Reform- und Öffnungspolitik festgehalten. Zwar ging die Reform der Staatsbetriebe zu marktwirtschaftlich orientierten Unternehmen nur langsam voran, doch wurden zur selben Zeit neue private Unternehmen gegründet, die für eine schnelle Entwicklung im Sektor sorgten. Sonderwirtschaftszonen entstanden in einigen Küstenstädten im Südosten des Landes und dienten bei der Öffnung des Landes als Brückenköpfe. Damit stieg auch die Anzahl ausländischer Investoren von Jahr zu Jahr.
Ideale und eine historische Verantwortung prägten die Reform und Öffnung noch zu Beginn, doch standen im zweiten Anlauf eher pragmatische Gesichtspunkte im Vordergrund. Verschiedene Interessensgruppen bildeten sich heraus wie auch eine soziale Ungerechtigkeit, die vor allem die Wirtschaftsreformen mit sich brachte. Folglich lautete die Frage nicht mehr, ob es Reformen geben sollte, sondern wie diese Reformen aussehen sollen. Denn waren innerhalb der 1980er noch „-ismen“ (Marxismus, Existenzialismus, Feudalismus) Gegenstand der Debatten, sind es nun Probleme, mit denen die Menschen im Alltag konfrontiert werden. Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer und Probleme in der medizinischen Versorgung, bei Bildung, Wohnsitz, Produktions- und Lebensmittelsicherheit nehmen zu.
Das Lager der Liberalen in China
Anfang der 1980er bis Mitter der 1990er prägten drei Bewegungen die intellektuelle Szene Chinas. Das waren der Radikalismus, der Konservatismus und der Liberalismus. In der Debatte zwischen den Radikalen und Konservativen zu Beginn des 20. Jahrhunderts griffen die Radikalen die Werte der traditionellen chinesischen Kultur an. Sie beriefen sich dabei auf die frühere Idee eines Tabula Rasa-Szenarien wie auch die Ideen des Westens wie Freiheit, Demokratie und Fortschritt. Während die konservative Seite eine Reform der gegenwärtigen Ordnung verlangte, strebten die Radikalen nach einem fundamentalen Wandel. Eine mögliche Revolution nahmen sie dabei in Kauf. Für einige Intellektuelle fehlte es China nicht an Impulsen, das System durch Gewalt zu ändern oder an konservativen Traditionen, die von der Vergangenheit abhängig sind und auf die alte Ordnung schwören. Allerdings habe es an einem auf Pluralismus basierenden Liberalismus, einer Demokratie wie auch einer Rechtsstaatlichkeit gefehlt. Folglich hat sich der Liberalismus mit der Frage um die wirtschaftliche Öffnung und den sozialen Wandel Chinas im 20. Jahrhundert selbstsicher erhoben.
Ursprünglich spielte ein spiritueller Hang zur Bewegung einer „Neuen Erleuchtung“ eine Rolle des Liberalismus. Diese Rolle wurde in der Kultur der chinesischen 1980ern im Angesicht sozialistischer Traditionen und Maoistischer Dogmen verkörpert. Viele Intellektuelle kamen zu der Zeit zusammen, um mit ideologischen Tabus zu brechen. Nach der Tragödie von 1989 am Tiananmen 天安门 nahm die Geschwindigkeit der Debatte zu und inhaltliche Faktoren widmeten sich den Schwierigkeiten der Transition in Osteuropa, der Implementierung einer Marktwirtschaft in China und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Wachstum. Wollten die Liberalen in diesem Zusammenhang die unerfüllte Aufgabe der „Neuen Erleuchtung“ auf das Feld der individuellen Rechte ausweiten, wanderten andere Gedankenströmungen unter der Flagge des „Neo-Konservatismus“ bzw. Neo-Konfuzianismus. Diese beriefen sich auf das ostasiatische Modell und eine Rückkehr zu einem System mit traditionellen Werten. Sie verlangten einen gestärkten Dirigismus, der sich selbst der ursprünglichen Aufgabe des Erreichens von Ordnung und Stabilität dahingibt, sowie einem Nationalismus, der von Reibungen mit westlichen Ländern genährt wurde und mehr von Identitätskrisen angefacht wird als von einem patriotischen Geist mit den USA als Feindbild.
Der Aufstieg der Neuen Linken in China
1991 veröffentlichte Wang Shaoguang 王绍光, Repräsentant der Neuen Linken, einen Artikel mit dem Titel „Founding a powerful democratic country“. Der Schwerpunkt des -Beitrags bezog sich auf die Notwendigkeit der Neuen Linken in der intellektuellen Szene Chinas. Er verlangte offen, dass der Markt in der Phase des Übergangs von Staat und Gesellschaft reguliert werde. Gleichzeitig kritisierte er den Liberalismus mit seinem Verlangen nach politischer und wirtschaftlicher Demokratie für eine bessere Reform. Der Begriff „Neue Linke“ wurde allerdings erst 1994 mit dem Auftauchen in der Hongkonger und Pekinger Presse offiziell. Er stand für eine junge Gruppe, die sich, inspiriert von westlichen Wissenschaften, vom Marxismus-Leninismus abkoppelte. Die zweite Offensive begann 1997 mit dem Artikel „Contemporary Chinese Thought and the Question of Modernity“ von Wang Hui 汪晖. Wang Hui beschreibt darin die Situation Chinas als Teil eines globalen kapitalistischen Schachbretts. Falls die Neo-Konservativen weiter auf die Frage des Rhythmus der Reform bestehen und einen moderaten Progressivismus anstatt radikale Änderungen befürworten, scheine es, dass die Neue Linke mehr über die Frage der Richtung der Reformen nachdenken müsse. Das Resultat des Artikels war der Beginn einer intellektuellen Debatte zwischen Neuen Linken und Liberalen.
Ganz klar prägen die beiden Strömungen, die Neue Linke und die Liberalen, die Debatte. Eine Zusammenfassung soll Schwerpunkte und Ausrichtungen der beiden Lager noch einmal verdeutlichen. Die Neue Linke spricht sich in der Frage nach der Richtung der Reformen klar und offen gegen den Kapitalismus und die Marktwirtschaft aus, nicht aber gegen eine Autokratie. So befürworten Linksgerichtete die Orientierung Mao Zedongs mit den Idealen wie dem großen Sprung, den Volkskommunen und der Kulturrevolution. Sie selbst sehen sich in der Rolle, das sozialistische Erbe fortzusetzen. Das Lager der Liberalen hingegen beruft sich auf westliche liberale Ideen und Theorien von Locke, Montesquieu und Adam Smith. Sie stehen für eine Marktwirtschaft, Freiheit und den fairen Wettbewerb, die Garantie von individueller Freiheit und Rechten wie Redefreiheit, Eigentumsrechte wie auch eine verfassungsmäßige Regierung und Rechtsstaatlichkeit.
Erfahren Sie im bald erscheinenden zweiten Teil des Artikels mehr über die Konfliktpunkte zwischen der Neue Linken und den Liberalen.
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