Von ICC-Redakteur Malte Steffenhagen
In den ersten beiden Teilen dieser Reihe wurde auf geistesgeschichtliche Hintergründe und heutige Herausforderungen für Homosexualität in China eingegangen. Dieser Beitrag betrachtet nun aktuelle Entwicklungen durch das Internet und soziale Medien im Land. Wie viele neue Freiheiten haben sich durch das Social Web für Schwule und Lesben in China ergeben?
China wurde jahrzehntelang durch die Ein-Kind-Politik geprägt und hat Generationen von Einzelkindern hervorgebracht. In diesem Land ist heutzutage das Internet ein zentraler Ort, an dem sich sozialen Interaktionen abspielen. Soziale Medien boomen in China und Apps wie Weixin 微信 (WeChat) beeindrucken selbst die Macher von Whatsapp und Facebook in ihrer Beliebtheit und Komplexität. Für viele junge Chinesinnen und Chinesen ist es einfacher, im Internet soziale Kontakte zu pflegen, als im reellen Leben. Die digitale Welt bietet ihnen viel mehr Freiheiten als die analoge Wirklichkeit.
Smartphone-Apps für Schwule und Lesben in China
Die beste Zeit also für eine Plattform wie Blue D. Dieses meist als App auf dem Smartphone genutzte soziale Netzwerk speziell für Schwule und Lesben hat sich innerhalb weniger Jahre zu einer der erfolgreichsten Internetplattformen weltweit entwickelt und ist inzwischen sogar die größte Seite für homosexuelle Männer und Frauen weltweit. Ins Leben gerufen wurde sie von dem inzwischen offen schwul lebenden Geng Le 耿乐. Er selbst hat fast sein ganzes Leben Verstecken gespielt, geheiratet und ein Kind bekommen. Er tat dies bis zu dem Tag, an dem er nicht mehr so weitermachen wollte und er sich outete.
Geng Le erschuf eine Seite, die Menschen wie ihm, die dasselbe durchgemacht hatten wie er, einen Halt bieten kann. Blue D soll allen, die sich in der realen Welt noch verstecken müssen, die Möglichkeit geben, Gleichgesinnte zu treffen und einen geschützten Raum bieten, um sich als „normaler“ Mensch zu fühlen. Ganz wichtig ist es Geng, die teilweise unaufgeklärten User über Themen wie AIDS zu informieren, denn dies findet in der Regel in der Schule und auch zu Hause nicht statt. Da das Thema Homosexualität in China immer noch ein Tabuthema ist, denken viele, sie seien die einzigen Betroffenen auf der ganzen Welt. Blue D soll Kraft und Mut vermitteln und zeigen, dass es vielen anderen ähnlich geht.
„Miet mich!“ – Wege zum (vorübergehenden) Familienfrieden
Zur kurzzeitigen Problemlösung können verschiedene Apps aushelfen, in denen man sich einen Scheinpartner „mieten“ kann. „Miet mich!“ heißt hier der Slogan – „zu wo ba! 租我把!“ Hier bieten sich meist attraktive junge Frauen und Männer an für alles, was man sich wünscht. Prostitution ist darunter allerdings nicht gemeint. Es geht vielmehr darum, etwas gegen die Einsamkeit der internet- und smartphonesüchtigen Einzelkindgeneration zu tun. Man kann gemeinsam essen gehen, oder auch ins Kino, sogar ins Museum, oder sich auch einfach mal mit jemandem in Ruhe unterhalten und vielleicht sogar sein Herz ausschütten. Erfahrungsgemäß geht das mit Fremden manchmal besser als mit engen Freunden und der Familie. Man kann aber auch jemanden mieten, um ihn oder sie zu Hause beim Besuch im Heimatdorf als neuen Freund oder Freundin, bzw. Verlobten oder Verlobte vorzustellen. Damit ist die Familie – zumindest vorübergehend – zufriedengestellt.
Das langfristige Problem mit der eigenen Familie ist damit allerdings noch nicht gelöst. Der soziale Druck, zu heiraten und ein Kind zu bekommen, bleibt. Auch dafür ist in der digitalen Netzwerk-Parallelwelt gesorgt. So gibt es zum Beispiel Apps wie „iHomo“, in der sich in der Regel Lesben und Schwule kennenlernen können. Das einzige Ziel für beide Seiten ist es , jemanden für die Heirat zu finden. Nur für die Familie natürlich – eine Zweckehe (xinghun 形婚) also. Wenn man sich gut leiden kann und man sich eine lebenslange freundschaftliche Verbindung vorstellen kann, dann steht einer Heirat nichts im Wege. Vor allem Eltern, Familie und das weitere gesellschaftliche Netz sind zufrieden und geben endlich die erwünschte Ruhe. In einer solchen Ehe kann endlich jeder der beiden Partner sein jeweils eigenes Leben führen. Also unbemerkt eine glückliche, langjährige gleichgeschlechtliche Partnerschaft genießen, ohne den Druck von Eltern und ständigen unangenehmen Fragen ausgesetzt zu sein. Ein Kind wird nicht selten über eine künstliche Befruchtung gezeugt, sodass sich für keinen der Beteiligten ein sexuelles Problem ergibt.
Internet als Rückzugsort – zwischen Freiheiten und Abhängigkeiten
Bisher sind diese Kontaktportale von den neuen Mediengesetzen ausgenommen und können weiterarbeiten wie bisher. Ohne die Möglichkeit der Flucht in die digitale Welt bleiben den chinesischen Homosexuellen, Bisexuellen oder Transsexuellen kaum Möglichkeiten, sich kennenzulernen und sich zu vernetzen. Inwiefern diese Portale weiterhin toleriert werden, wird die Zukunft zeigen. Ob es unabhängig von der Regierung jemals eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz geben wird, muss ebenfalls vorerst unbeantwortet bleiben. Immerhin bieten Blue D, iHomo und Co. bisher ungekannte Freiheiten, die vielen homosexuellen Chinesen das Leben erleichtern und bunter machen.
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