Wie hat sich das Coronavirus in China entwickelt? Hat das Land die Pandemie wirklich in den Griff bekommen? Sollte es als Vorbild für andere Länder dienen? Diese Fragen werden angesichts steigender Zahlen im Westen wieder verstärkt gestellt. Der langjährige China-Expat und Experte der Medizinbranche Volker Müller 米福 stellt auf auf dem ICC-Portal seine persönliche Sicht der Dinge vor. Lässt sich bereits Chinas Sieg über die Corona-Pandemie feststellen?
Gefühlt dreimal am Tag werde ich gefragt, wie es mit der COVID-19 Pandemie in China steht, man hört ja gar nichts mehr. Keine Nachrichten sind in diesem Fall gute Nachrichten. In „Festland China“ (d.h. China ohne Hongkong, Taiwan und Macao) gibt es zurzeit (13. Dezember morgens) 306 akut Kranke, dazu 195 Infizierte ohne Symptome, der letzte Todesfall wurde am 17. Mai gemeldet. Die große Mehrzahl der Kranken und symptomlos Infizierten sind importierte Fälle, also Patienten, die sich im Ausland oder auf dem Flug nach China angesteckt haben, bei denen die Ansteckung erst in China festgestellt wurde. Jede(r) Reisende nach China muss bei der Ankunft in eine 14-tägige Quarantäne, so dass sich das Risiko einer Weiterverbreitung in Grenzen hält.
Kleinere Ausbrüche und mögliche Übertragungswege
In letzter Zeit häufen sich in China kleinere Ausbrüche. Wenn man sich die weltweiten Zahlen ansieht, ist die Gefährlichkeit des Virus stärker von der Jahreszeit abhängig, als ursprünglich gedacht, in Südamerika gehen die Ansteckungen zurück, auf fast der gesamten Nordhalbkugel steigen sie dramatisch. Die chinesischen Gesundheitsbehörden haben es bisher geschafft, durch flächen- deckendes Testen und sehr gründliche Kontaktverfolgung alle Ausbrüche in den Griff zu bekommen.
Zwei der letzten Ausbrüche ereigneten sich in Grenzstädten zu Russland, es spricht alles dafür, dass das Virus, ob per Mensch oder an/in Waren, über die sibirisch-kalte Grenze gekommen ist. Bei zwei Ausbrüchen, einschließlich dem letzten in Beijing im Juni, waren kontaminierte Verpackungen gefrorener Lebensmittel die sehr wahrscheinliche Infektionsquelle. Das Virus ist hitzeempfindlich, in Kälte bleibt es aber lange infektiös.
In den letzten Wochen ist ein Fall bekannt, dass ein importierter Fall einen kleinen Ausbruch verursacht hat, nach einer Untersuchung des Patienten wurde ein medizinisches Gerät nicht ausreichend desinfiziert. Bei mehreren Ausbrüchen, jetzt gerade in Sichuan und vor einiger Zeit bei zwei größeren Ausbrüchen (mehr als 100 Ansteckungen) in Xinjiang im fernen Westen, ist die Quelle unbekannt.
Bis heute weiß man nicht, wann, wo und von welchem Tier das Virus erstmals auf den Mensch übergesprungen ist, ob und wie viele weitere Tier-zu-Mensch Übertragungen es gibt, in Dänemark haben ja wohl Menschen Nerze infiziert, von denen das Virus zurück auf den Menschen sprang. In einigen sehr seltenen Fällen „schläft“ das Virus im Körper, ist nicht nachweisbar, und erst bei besonderen Belastungen des Menschen bricht die Krankheit wieder aus, wie z.B. bei Herpes. Dann gibt es noch eine Reihe denkbarer Quellen, von illegalen Grenzübertritten bis hin zu Bio-Terrorismus.
Subjektiv, mein Leben in Beijing zur Zeit der weltweiten Pandemie
Wie sieht mein Leben in Beijing aus? Weitgehend normal. Ich fahre jeden Tag mit dem Bus ins Büro, gehe abends ins Fitnessstudio (der Corona-Speck vom Frühjahr ist weitgehend verschwunden), klappere Baumärkte ab, um die Renovierung unserer Wohnung zu organisieren.
Da ich im medizinischen Bereich arbeite, bin ich sicher etwas vorsichtiger als der Durchschnitts-Beijinger, auch wenn es seit mehr als 100 Tagen keinen einzigen lokal übertragenen Fall in der 20-Millionen-Stadt gab. Was ist anders als in vor-Corona Zeiten? In öffentlichen Verkehrsmitteln Maske tragen ist Pflicht, freiwillig trage ich Maske in Läden etc., wo ich in geschlossenen Räumen mit vielen Menschen in Kontakt komme, im Büro und auf der Straße dagegen trage ich keine. Ansonsten vermeide ich, in Stoßzeiten mit der U-Bahn zu fahren, vermeide Menschenansammlungen.
In Restaurants gehe ich selten, und wenn, dann in möglichst leere. Ich verweigere es, bei Begrüßungen die Hand zu geben (machen sowieso fast nur Ausländer) und achte mehr auf Hygiene. Natürlich gehe ich auf Abstand, wenn jemand niest oder hustet. Das war es dann eigentlich schon, ansonsten Leben ohne Einschränkungen.
Fuzhou – Sicherheitsmaßnahmen bei Konferenzen und Gastronomiepleiten
Einmal im Jahr findet in China eine große drei-tägige Konferenz zur Sicherheit von Medizinprodukten statt, jedes Jahr in einer anderen Stadt, dieses Jahr in Fuzhou, Provinzhauptstadt von Fujian, am Meer gegenüber Taiwan gelegen. 1600 (!) Teilnehmer kamen zusammen. Natürlich alle mit Maske, am Eingang Temperatur messen, jede(r) Teilnehmer(in) musste eine Verpflichtung unterschreiben, bei Anzeichen einer Erkältung zu Hause zu bleiben. Dass die Behörden eine Konferenz in dieser Größenordnung organisieren zeigt das Selbstvertrauen, Covid-19 im Griff zu haben.
Fuzhou hat einen südlich-subtropischen Lebensstil, massenhaft Kleinst-Restaurants, alle voll, brummendes Leben, Corona ist weit weg. Die Gastronomie in Beijing wurde ein Stück schlimmer getroffen. Viele Restaurants gingen im Frühjahr pleite, vor allem solche, in denen das Essen sowieso nicht so toll war. Einige Restaurants haben inzwischen mit neuen Besitzern wieder aufgemacht, aber es gibt immer noch leere Räume, anders als in Fuzhou, wo ich keinen freien Platz für ein Restaurant gesehen habe.
Qinghai – Reisen in China trotz globaler Pandemie
Eine längere Urlaubsreise haben wir dieses Jahr Corona-bedingt nicht unternommen, aber immerhin eine Woche in den Bezirk Yushu im Süden der Provinz Qinghai, eine tibetisch geprägte Gegend auf knapp 4000m Höhe. Ist zurzeit eine nicht notwendige Reise innerhalb Chinas zu verantworten, ohne sich und andere zu gefährden? Die ganze Provinz Qinghai, sechs Mio. Einwohner, doppelt so groß wie Deutschland, hatte insgesamt seit Anfang des Jahres 18 Covid-Fälle, die letzten beiden Kranken wurden am 22. Februar geheilt entlassen. Im Bezirk Yushu, etwa drei Viertel der Fläche Deutschlands, gab es keinen einzigen Fall. Umgekehrt, kann man als Tourist unbewusst COVID-19 in abgelegene Gegenden hineintragen?
Die lokalen Behörden verlangten von uns, bei Ankunft einen Corona-Test zu machen. Sehr verantwortungsvoll, falls sich Corona unter nomadischen Hirten verbreitete, wäre es kaum möglich, Infektionsketten nachzuvollziehen. Der Test kostete umgerechnet 15 Euro, das Ergebnis lag in weniger als 24h vor, gut organisiert. Ich nutzte die Gelegenheit, ein paar Blicke in Labor und Krankenzimmer im zentralen Krankenhaus der Bezirkshauptstadt zu werfen: ausgesprochen gut ausgestattet. Die Krankenschwestern, alles Tibeterinnen mit einem „süßen“ Akzent chinesisch sprechend, äußerst freundlich und hilfsbereit.
Insgesamt waren während des Nationalfeiertags Anfang Oktober hunderte Millionen Menschen auf Achse. Offenbar ist es dabei zu keiner einzigen Infektion gekommen.
Kulturelle Unterschiede, unterschiedliche Erfahrungen
Was ist anders in China, warum ist China (bisher) so gut durch die Pandemie gekommen, obwohl der erste große Ausbruch doch in Wuhan war? Die eine Erklärung gibt es nicht, eher eine Reihe von Faktoren.
- Die Bilder von Januar und Februar, als die Lage in Wuhan außer Kontrolle geriet, die Stadt abgeriegelt wurde, innerhalb von 10 Tage zwei neue Krankenhäuser komplett mit Intensivstationen aus dem Boden gestampft wurden, 40.000 der besten Ärzte und Krankenschwestern aus ganz China nach Wuhan geschickt wurden, die Bilder haben sich im Gedächtnis der Menschen festgesetzt, bei uns gibt es keine „Covidioten“, niemanden, der die Gefahr unterschätzt.
- Masken werden in China „schon immer“ getragen, gegen Sandstürme, Schnupfen und Grippe, Umweltverschmutzung und Allergien. Daher ist das Tragen von Masken kein Thema.
- Technischer Pragmatismus. Die chinesische Gesundheits-App für das Handy ist einfach, zeigt im Prinzip nur an, ob man in einem Risikogebiet gewesen ist, wobei „Gebiet“ ein einzelner Straßenzug sein kann.
- Den Anspruch nachzuvollziehen, ob man mit einzelne Infizierten engen Kontakt gehabt hat, gibt es nicht, was auch technisch kaum machbar wäre. Dafür war die App schnell fertig und einsatzbereit, als grobes Warnsignal erfüllt sie ihren Zweck.
- Vor nur einer Generation waren Infektionskrankheiten noch eine Haupttodesursache, das ist im kollektiven Gedächtnis weiterhin stark bewusst. Die chinesische städtische Mittelklasse wirkt (aus deutscher Sicht) manchmal übertrieben reinlich, z.B. werden Nahrungsmittel wie z.B. Obst nicht mit der Hand angefasst. Bei der Pandemie ist diese Vorsicht von Vorteil.
- Ausser sehr engen Familienmitgliedern umarmt sich niemand zur Begrüßung (wer hat diese (Un-) Sitte bloß von Italien nach Deutschland eingeschleppt?), auch Hände schütteln ist eher unüblich. Auf der anderen Seite, die Bevölkerungsdichte im Osten Chinas ist sehr hoch, und Abstand halten im täglichen Leben eher ungewohnt.
- Das entscheidende wohl: die Entschlossenheit der Gesundheitsbehörden (und die Erwartungshaltung der Bevölkerung an die Behörden), die Covid-Pandemie einzudämmen, Kranke und Todesfälle unter allen Umständen zu vermeiden. Sobald einzelne Fälle auftreten, werden die Bewohner ganzer Stadtteile, zum Teil mehrere Millionen Menschen, getestet, positiv Getestete strikt isoliert, mögliche Kontaktpersonen mit großem Aufwand aufgespürt. Das funktioniert, weil ausreichend Testkapazitäten vorhanden sind, wenn es an einem Ort zu einem Ausbrauch kommt, werden sofort Experten aus dem ganzen Land zum Ort das Ausbruchs geschickt.
- Durch die Massen-Produktion kosten Test-Kits im Großeinkauf wenig mehr als ein Euro, auf jeden Fall gut investiertes Geld. Niemand käme auf die Idee, sich gegen einen Test oder Quarantäne zu wehren, Einsicht in die Notwendigkeit. Vorteil: Die Maßnahmen sind sehr zielgerichtet, nur auf einen (relativ) kleinen Personenkreis begrenzt.
- Hygienemaßnahmen werden strikt kontrolliert. Ich war diese Tage gerade beim Zahnarzt, eine Beamtin vom Gesundheitsamt kam unangemeldet in die Praxis und prüfte das Hygienekonzept. Im Fitnessstudio wird jedes Gerät, jeder Spint nach der Benutzung desinfiziert, bevor der nächste Nutzer kommt. Man muss sich voranmelden, die Anzahl der Nutzer ist begrenzt, so dass Abstand gewahrt bleibt.
- Reisende aus dem Ausland sind zurzeit die größte Gefahr. Jeder Einreisende muss bei Ankunft zwei Wochen in strikte Quarantäne, das reduziert das Übertragungsrisiko weitgehend. Die Zahl der internationalen Flüge ist deutlich reduziert, Landübergänge sind geschlossen.
- Mit der zweiten Welle in Europa und Nordamerika stieg auch die Zahl der „importierten“ Fälle drastisch, in Spitzenzeiten wurden bei der Ankunft mehrere dutzend Infizierte pro Tag festgestellt. Inzwischen wurden Regeln erlassen, das eine Reihe von Tests gemacht werden müssen, bevor Passagiere ins Flugzeug steigen, seitdem pendelt die Zahl der importierten Fälle wieder um 10/Tag.
- Importierte Waren, vor allem gefrorene Lebensmittel, werden inzwischen systematisch kontrolliert, ob sie kontaminiert sind.
- Bei Ausbrüchen werden Schulen immer mit als Erstes geschlossen, auch weil zuallererst die Kinder geschützt werden sollen. Betreuung ist nicht so ein Problem, in den meisten Fällen hilft die Großfamilie. Die städtische Bevölkerung, Lehrer wie Schüler, sind absolut „Internet-affin“, Fernunterricht kommt gut an.
Am Rande bemerkt, ganz einmalig ist China nicht, Nachbarländer im Norden (Mongolei) und Süden (Laos), die es kaum einmal in die Nachrichten schaffen, haben bisher wenige Erkrankungen und keinen einzigen Todesfall.
Impfstoffe – Kooperation mit BioNTech in Deutschland ignoriert
China hat eine ganze Reihe „Eisen im Feuer“. Im März dieses Jahres ging das Shanghaier Unternehmen Fosun eine „strategische Partnerschaft“ mit BioNTech ein, der Impfstoff wurde gemeinsam entwickelt. Ich weiß nicht, wie groß der Anteil Fosuns dabei war, interessant (aufschlussreich) ist nur, dass die Kooperation mit Fosun in den deutschen Medien nicht oder nur ganz am Rande erwähnt wird. Die mRNA-Technologie hat aber auf jeden Fall BioNTech in die Partnerschaft eingebracht. Eine Zulassung in China hat der mRNA-Impfstoff noch nicht, es finden gerade klinische Prüfungen statt.
Bei den klinischen Prüfungen zeigt sich wieder der chinesische Pragmatismus. Nach Lehrbuch sollen klinische Studien abgeschlossen sein, dann erfolgt die behördliche Zulassung, dann beginnen die Impfungen. Bei Covid-19 wurden Impfstoffe im Rahmen klinischer Prüfungen u.a. an Personen getestet, die besonderen Risiken ausgesetzt sind, z.B. internationale Flugbesatzungen. Die bekommen so einen Schutz, bevor der Impfstoff offiziell marktreif ist, Anwendung und klinische Studie verschmelzen.
In China selbst hat bisher noch kein Impfstoff eine Marktzulassung bekommen. Da die Infektionszahlen sehr gering sind, sehen die Behörden im Moment keinen Anlass für eine überstürzte Notfall-Zulassung, lieber prüfen sie etwas genauer. Ein Problem ist, dass es in China kaum Patienten gibt, die Verträglichkeit des Impfstoffs kann zwar in China geprüft werden, die Wirksamkeitsstudien finden dagegen in Südamerika und im Nahen Osten statt.
Dann stellt sich die Frage, ob der Impfstoff bei verschiedenen Ethnien gleich wirksam ist. Die Vereinigten Arabischen Emirate (Dubai etc.) und Bahrein haben letzte Woche einem Impfstoff der Beijinger Firma Sinopharm zugelassen. Beides sind vom Bruttosozialprodukt her entwickelte Länder, man kann davon ausgehen, dass ihre Anforderungen an Impfstoffe hoch sind.
In den letzten Tagen wurde in chinesischen sozialen Medien stark kritisiert, dass westliche Staaten sich Impfstoffe gesichert haben und für Entwicklungsländer nichts übrig bleibt, oder nur zu unerschwinglichen Preis. Hier könnten chinesische Firmen einspringen.
Soweit meine Zusammenfassung. Im Moment (in China) alles im grünen Bereich. Jeder einzelne trägt ein Stück Verantwortung, dass es so bleibt.
Vielen Dank für den Erfahrungsbericht, Herr Müller!
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Das klingt aber sehr nach regierungsgesteuerter Propaganda, habe da andere Erfahrungen.
Was haben Sie denn an anderen Erfahrungen gemacht?
Nach acht Monaten habe ich meinen eigenen Artikel noch einmal gelesen, kann ich aus heutiger Sicht alles nur bestätigen
Vielen Dank Herr Müller für diesen sachlichen Bericht, der allem was in unseren Schweizer Mainstreammedien berichtetet wurde, diametral entgegensetzt ist: Es fing damit an, dass die Zahlen angezweifelt wurden, die Massnahmen in Wuhan wurden als unverhältnismässig angesehen, Einzelschicksale dramatisiert, der App wurde als Massnahme der Bürgerkontrolle durch den Staat gesehen – kurz, es wurde alles was in China während der Pandemie geschah als wenig glaubwürdig und Staatspropaganda angesehen. Dadurch haben wir es verpasst, genau hinzuschauen, Lehren daraus zu ziehen. Unsere Regierung hat eine Übersterblichkeit in Kauf genommen, weil das das Primat der Wirtschaft über den Menschenleben stand.