Von Kolja Quakernack
Das Schreiben mit dem Pinsel ist eine einfacher Prozess: Tusche wird mithilfe eines Pinsels auf ein Papier gebracht. Dabei versucht man, sich möglichst an gewisse Regeln zu halten bzw. nicht von dem abzuweichen, was man zu kopieren versucht. Am Ende ist das Papier gefüllt mit Schriftzeichen und man entscheidet nun, ob man sein Ziel, ein ansehnliches Kunstwerk zu produzieren, erreicht hat oder ob man es nochmal probiert.
Das ist das Sichtbare, das beim Schreiben passiert. Wesentlich komplexer sind die Vorgänge, die man eben nicht sehen kann, da sie in Kopf und Herz der/des Schreibenden stattfinden. Da ist unter anderem das Sich-selbst-verunsichern. Egal, wie sehr wir versuchen uns von unserem Urteilen frei zu machen – wir tun es weiterhin. Ein erster Strich auf dem Papier wird demnach sofort als ge- oder misslungen beurteilt. Dieses Urteilen führt unweigerlich zu einer Einschätzung des eigenen Könnens oder Unvermögens. Die Aufmerksamkeit ist plötzlich viel mehr auf den Schreibenden als auf das Schriftzeichen gerichtet. Das daraus resultierende Gefühl drängt sich unbarmherzig in den Vordergrund. Das macht es schwierig, sich auf das Schriftzeichen zu konzentrieren. Oft bewahrheitet sich dann die scheinbar objektive Feststellung eines misslingenden Schriftzeichens und honoriert auch noch die pessimistische Intuition der Kalligraphen; dessen Selbstvertrauen schwindet.
Dieses Szenario ist laut vielen Anfängern zu Beginn ein durchaus zutreffendes. Und ein ernstzunehmendes dazu. Viele verlieren bereits an diesem Punkt die Lust und hängen den Pinsel (zum Trocknen) an den Nagel. Mit der Zeit gewinnt man aber an Routine und Erfahrung, wird selbstsicherer und verliert die irreale Angst vor Pinsel, Tusche und Papier. Ein Trost also: Aller Anfang ist schwer! Es wäre aber auch gelogen zu sagen, dass die Kalligraphie ab einem gewissen Punkt nur noch gelingt und sich nunmehr alles Geschriebene so präsentiert, wie man es sich zu Beginn seiner Kalligraphie-Karriere in seinen kühnsten Träumen ersehnt hatte.
Eine weitere Schwierigkeit ist das Spiegeln. Im Leben verändert man sich, aber letztlich bleibt man doch die-/derselbe. So ist es auch in der Kalligraphie. Wer bei sich feststellt, dass ihn z.B. die eigene Ungeduld schon so manches schönes Schriftzeichen gekostet hat, weil sie/er einen der Striche nicht mit der nötigen Gelassenheit auf das Papier gebracht hat, wird diese nicht einfach ablegen können. Stattdessen sollte man sie wahrnehmen, als Ungeduld erkennen und letztlich an sich akzeptieren. Wer sich gegen seinen Charakter stellt, kämpft gegen sich selbst. Die Kalligraphin Wei Shuo 卫铄 (272-349) verglich zwar in ihrer Schrift Die Schlachtformation des Pinsels 笔阵图 die chinesische Schriftkunst mit einem Kampf, jedoch in einem anderen Zusammenhang.
Auch andere Charaktereigenschaften wie Perfektionismus, Unzufriedenheit oder ein ausgeprägtes Temperament zeigen sich auf ihre Weise in den Momenten des Schreibens mit dem Pinsel. Wer den Pinsel in die Hand nimmt, sieht sich gnadenlos mit sich selbst konfrontiert. Bei den Praktizierenden mit weniger Durchhaltevermögen zeigt die Erfahrung, dass es vielen leichter von der Hand geht die Frustration auf die Schriftzeichen zu projizieren und Pinsel und Papier als Staubfänger auf den Dachboden zu verbannen, anstatt sich selbst kritisch zu hinterfragen. Überlieferungen zufolge hat Wang Xianzhi 王献之 (344-386), siebter Sohn des großen Meisters der Halbkursivschrift Wang Xizhi 王羲之 (303-361), sehr unter dieser Konfrontation mit sich selbst gelitten. Er hatte sich schon als Kind eingeredet, dass er eine schönere Handschrift als sein Vater hat. Eines Tages schrieb er als junger Erwachsener eine Kalligraphie, die er selbst für sehr gut befand. Sein Vater sah später in einem unbeobachteten Moment das Schriftstück, fand einen Fehler in der Komposition und fügte deshalb einen Punkt bei dem Schriftzeichen 大hinzu, so dass es zu 太 wurde. Als Wang Xianzhis Mutter später die Kalligraphie überflog, sprach sie von einer mittelmäßigen Kalligraphie, wobei jener Punkt des Zeichens 太 alles andere in den Schatten stellen würde. Wang Xianzhi war daraufhin sehr niedergeschlagen. Ähnlich war es in einer anderen Situation, als sein Vater den Bezirk für einige Besorgungen verließ. Auf seinem Weg schrieb er in leicht angetrunkenem Zustand an einer Wand eine improvisierte Kalligraphie. Als er fort war, wischte Wang Xianzhi die Schriftzeichen weg, um sie dann wieder an Ort und Stelle zu schreiben. Er hoffte, dass sein Vater den Unterschied nicht bemerkt und wollte damit seinem Vater beweisen, dass ihre Handschriften ebenbürtig waren. Als Wang Xizhi jedoch später zurück kam und „seine“ Schriftzeichen sah, war er entsetzt. Er murmelte, dass er als er die Zeichen schrieb sehr viel betrunkener gewesen sein müsse, als er dachte. Wang Xianzhi schämte sich insgeheim für seinen törichten Täuschungsversuch und sah ein, dass er die Kalligraphie wohl noch nicht vollends begriffen hatte.
Die Kalligraphie war also bei Wang Xianzhi fortwährend Anlass für das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Diese Erkenntnis war für ihn nur schwer zu akzeptieren. Er wollte die Schriftkunst mit dem Pinsel aber auch nicht aufgeben. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen wurde er später ein berühmter Kalligraph. Inzwischen gibt es sogar Kritiker, die ihm mehr Können zusprechen als seinem Vater. Mit der Zeit lernt man sich kennen und entsprechend mit sich umzugehen. Im Bestfall wird die eigene Handschrift mit dem Pinsel mit der Zeit ansehnlicher, so dass die Frustration zur Motivation wird. Allerdings besagt ein chinesisches Sprichwort, dass wenn man das erste Mal ein Schriftzeichen so schreibt, dass es einem selbst gefällt, es noch mindestens 100 Mal geschrieben werden muss, bis es einem wirklich in Fleisch und Blut übergegangen ist. Dazu kommt, dass es nicht einen Zeitpunkt x gibt, an dem man sich sicher sein kann, dass man das gelernte Zeichen ab nun immer ansehnlich schreiben wird. Wenn du einen Tag nicht schreibst, weißt nur du es allein. Wenn du drei Tage nicht schreibst, dann sehen es die Anderen auch, heißt es in einem weiteren Sprichwort. Ein heute gelungenes Zeichen kann morgen schon nicht mehr auf Anhieb gelingen. Das ist vor allem dann frustrierend, wenn man davon ausging das gemeisterte Schriftzeichen nun gelernt zu haben.
Als vorerst letzte Hürde sei noch genannt, dass nicht nur die Technik mit dem Pinsel eine entscheidende Rolle für das Gelingen beim Schreiben spielt, sondern auch der kritische Blick des eigenen Auges dazu verhilft, dass sie stetig besser wird. Das eigene Verständnis von der Schönheit einer Kalligraphie ändert sich fortlaufend, indem verschiedene Eindrücke im Kopf gespeichert, miteinander verglichen und als nachahmenswert oder verwerflich etikettiert werden. Eigentlich ein gutes Zeichen – lässt sich doch der Blick nicht mehr so einfach durch oberflächliche Kompositionen täuschen, sondern erkennt immer mehr die wahre Schönheit der einzelnen Striche. Frustrierend aber auch deshalb, weil die eigenen Werke am meisten von dem eigenen, immer kritischeren Blick betroffen sind und alte, ehemals gelungene Werke letztlich doch noch im Papierkorb landen.
Was macht trotz alledem den Reiz der Kalligraphie aus? Vielleicht ist es die Ruhe, die Konzentration, mit der man sich den Schriftzeichen widmen und alles um sich herum vergessen kann. Vielleicht ist es die Faszination an dem chinesischen Schriftsystem, in das man auf diese Weise eintauchen möchte. Vielleicht ist es aber auch genau das, was in der obigen Ausführung beschrieben steht: Die Herausforderung, sich wissentlich sich selbst zu stellen, sich neu kennen zu lernen und über sich hinauszuwachsen, wenn man sich nur lässt.
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Kolja Quakernacks Kunst lässt sich hier bewundern: www.lilaowai.com
Hans-Ulrich Flemmig meint
Die netteste, ausgewogenere und anschauliches Einfuehrung, die ich je las. Die Entscheidung wird damit nicht leichter. Schade und auch wieder nicht. So geht man sehenden Auges in eine neue Sache und schon ein wenig vorgewarnt. Danke vielmals.