Erfahrungsbericht von Martin Schmoll. trommsdorff + drüner, Juni 2013.
Vor einer ganzen Weile haben sich Menschen bevorzugt an ‚Brüchen‘ angesiedelt – egal ob an Flüssen oder Meeren – und Städte wachsen lassen. Menschen ‚brechen‘ Gewohnheiten, um ihr Leben zu verändern.
Logische Brüche, Paradoxien und Disharmonien bürgen neue Erkenntnisse in Wissenschaft und Forschung und sind der Motor für das Progressive und Innovative in unserer Welt. Brüche lassen Neues entstehen. An Brüchen entwickelt sich Leben.
China ist voller Brüche: China ist rot – China ist grau. China wächst – China schrumpft. China ist überfüllt – China steht leer. China ist Tradition – China ist Moderne. China ist arm – China ist reich. China regiert kommunistisch – China wirtschaftet kapitalistisch. China stinkt – China glänzt. China bricht und China lebt.
Das Land China: 564 Mio. Menschen in einem Sozialen Netzwerk
China ist ein Land wie kein zweites auf dieser Welt. Erstens ist es in Anbetracht seiner Fläche weniger ein Land, sondern vielmehr ein eigener Kontinent und zweitens ist Chinas historische Entwicklung einzigartig. Des Weiteren navigiert sich mittlerweile auf diesem Landmassiv, mit Wiedersprüchen so groß wie seine Wachstumsraten, ein Großteil der Weltbevölkerung an ein anderes Ufer: von der kommunistischen Produktionsbank der Welt hin zu einem innovationsgetriebenen eigensinnigen Staat, der dem Westen das Wasser reichen möchte.
Eine Entwicklung, wie sie vorher in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesen ist und deren Folgen und Verlauf schwer abzusehen sind. Man kann dieses Land lieben, man kann Angst davor haben oder man kann es hassen. Doch um irgendetwas dergleichen zu können, muss man es zunächst erlebt haben. Genau diese Motivation trieb mich persönlich in Richtung „Ferner Osten“, der, wie ich heute feststelle, gar nicht mehr so fern ist.
Warum sind Chinesen 21 Stunden pro Woche online?
Was bedeutet es, dass 564 Mio. Menschen in einem Sozialen Netzwerk miteinander interagieren? Warum twittern die Chinesen nicht, sondern sind auf Sina Weibo? Warum sind sie dafür 21 Stunden pro Woche online? Wie können 205 Smarts innerhalb von vier Stunden auf „Taobao“, dem chinesischen Pendent zum Online-Marktplatz Ebay, verkauft werden?
Doch trotz all dieser Moderne und des Fortschrittes kommen mir gezwungenermaßen Fragen wie „Wie ist es möglich, dass sich ein Porschefahrer während eines Staus am Steuer seine Fußnägel schneidet?“ in den Sinn. Man kann China eben nicht verstehen, das können nicht einmal die Chinesen selbst, doch man kann es erleben.
Eben dies brannte mir mittlerweile schon seit mehr als zwei Jahren unter den Nägeln. Ich wollte China weder lieben noch hassen. Ich wollte einen Einblick gewinnen und erfahren, wie es ist, wenn 1,3 Milliarden Menschen gleichzeitig springen. Genauso spannend würde es wiederum sein, die Auswirkungen dieses Bebens mit geschärften Sinnen in Europa zu spüren.
Nach dem Studium der Marketingkommunikation in Berlin zog es mich nach Hangzhou, genauer gesagt an die Zhejiang Universität, um dort meinen Master zu absolvieren. Im Anschluss bot sich mir an, bei der Unternehmensberatung trommsdorff + drüner in Peking das Beste aus zwei Welten zu erleben: Deutsche Marketingexpertise und lokale Markteinblicke.
Der Job: Digitales und Innovations-Marketing in China
Ein gemischtes Team aus Alteingesessenen und Frischlingen jeweils aus Deutschland und China ist eine unheimliche Bereicherung für den Erfahrungsaustausch und gegenseitiges Lehren und Lernen. Das freie Ambiente eines Start-Ups gibt den richtigen Raum, um den einzigartigen Lerneffekt eines internationalen Teams verschiedenster Disziplinen zu bestärken.
Der fachliche Forschungs- und Analyse-Fokus der Arbeit gibt viele Einblicke in wirtschaftliche Entwicklungen einerseits und demographische Dynamiken und psychologische Verhaltensmuster andererseits – und das in einem Kulturraum, der sich sehr stark vom gewohnten Westlichen unterscheidet. Der Abgleich zwischen beiden Dimensionen ergibt spannende Erkenntnisse, die mein Interesse stets aufs Neue wecken und mich auf neue aufkeimende Themenfelder in der Entwicklung Chinas stoßen lassen.
Verständnis der westlichen Welt reflektieren
Themenspezifische Tiefenanalysen von Onlinekonversationen geben detaillierte Einblicke in das Denken und Handeln von chinesischen Online-Nutzern. Basierend auf einem massiven Datenvolumen ergeben sich für unsere Kunden anhand der Interpretation komplexer Zusammenhänge hilfreiche und wirtschaftlich relevante Einsichten.
Für mich persönlich bringen sie mit jedem Projekt einen immer tieferen Einblick in eine sehr vielschichtige und dynamische Gesellschaft. Durch einen westlich kultivierten Hintergrund entstehen viele Paradoxien und logische Brüche, die ebenso mein Verständnis der westlichen Welt reflektieren und deren Konstrukte herausfordern.
Das Themenfeld von digitalem und Innovations-Marketing steht hier in China an einer überaus interessanten Schnittstelle zwischen Individuum und gesellschaftlichem Entwicklungsstand. Versteht man die Rolle von Online-Services in einem sich rapide entwickelnden und sehr vielfältigen Land wie China, bekommt man einen guten Einblick in die Relevanz für den gesamten Entwicklungsprozess.
In Bezug auf die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung von E-Commerce und der infrastrukturellen Anbindung entlegener Regionen, sowie von Internetanbindung und -nutzung und Bildungsniveau, so zeigt sich eine starke Korrelation zwischen digitalen Produkten bzw. Services und einem steigendem Lebensstandard. Diese universellen Anreize machen meine Arbeit bei trommsdorff + drüner so interessant.
Der Rest: zwischen Evoluationen und Traditionen
Neben den üblichen Berichten über kulinarischen Wagemut, Wachstumszahlen und Wirtschaftsethik, die ich hier bewusst überspringe, entdeckt man bei näherer Betrachtung persönlicher Schicksale in China doch die Festigkeit der Unterschiede zur westlichen Kultur.
Der enorme Examensdruck, unter dem Chinesen leiden, das Streben nach Geld und höherem Lebensstandard, das wachsende globale Bewusstsein, steigende Unabhängigkeit von ausländischen Einflüssen durch wachsendes eigenes Know-how, die neue Maxime der Effizienz als zukünftige Wachstumssäule und viele weitere sich etablierende Evolutionen – sie beschreiben ein Land, das sich täglich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit neu erfindet, obwohl es in vielen Bereichen noch in alten Traditionen steckt.
Berichte voller Liebe, Angst oder Hass
Das dabei auch einiges auf der Strecke bleibt ist klar. Berichte über Umweltverschmutzung sind hier vor Ort eben nicht nur Berichte, sondern greifbare und ernstzunehmende Problematiken, die die Lebensqualität stark mindern. Dies nur als ein Beispiel von vielen, warum eine China-Reise und die damit verbundenen Erfahrungen nicht gerade ein „Wochenendtrip ans Meer“, sondern eher in die Kategorie „Nicht jedermanns Sache“ fällt.
Es erklärt auch, warum es so viele Berichte voller Liebe, Angst oder Hass gibt: China ist facettenreich auf den ersten Blick, komplex auf den zweiten und ein Mysterium, wenn man sich länger als zwei Wochen im Land aufhält. Und gerade darum ist und bleibt China eine der umfassendsten Erfahrungen, die ich mir bisher hätte vorstellen können.
Waren oder sind Sie auch beruflich in China tätig? Dann freuen wir uns sehr über einen Erfahrungsbericht von Ihnen! Einfach den Text an info@china-wiki.de senden, gerne mit ein, zwei Fotos von Ihnen in China.
Informationen über trommsdroff + drüner in China:
trommsdorff + drüner, innovation + marketing consultants GmbH (td) ist eine auf Innovationsmarketing und -management spezialisierte, international tätige Unternehmensberatung.
Gegründet 1999, unterstützt td heute mit 90 Mitarbeitern an den Standorten Berlin und Peking Unternehmen an den erfolgskritischen Punkten in Marketing- und Innovationsprozessen und fühlt sich der Problemlösung von den ersten Ideen bis zur erfolgreichen Implementierung verpflichtet.
Die zentralen Kompetenzfelder von td sind: Social Media, Innovationen, Consumer Insights und Education Solutions
Weitere Informationen finden Sie unter www.td-berlin.de
Sandra=) meint
Toller Bericht! Unglaublich, was in China im Netz so passiert.Kein „Wochenendtrip ans Meer“ kann ich mir gut vorstellen.Aber dafür sicher eine Erfahrung, die nicht zu vergleich ist.Gruß_S
Martin meint
Hallo Sandra,
ja die Chinese, die es können genießen ihre digitale und kommerzielle Freiheit in vollen Zügen. Wer will denn heute auch schon nach an das Meer, wenn er UGG-boots, Prada Sonnenbrillen und Manolos (Die könnte man am Meer eh nicht tragen – dieses unpraktische Meer) hat?
Spannend und erschreckend zu gleich.
Gruß
Martin
TT meint
Ans Meer höchstens mit diesen coolen Masken, damit die Haut nicht dunkel wird;) War da nicht auch in Qingdao so eine grüne Plage? Da sind die auch rein. Schon verrückt…